Porki #53 und Schnee von gestern und heute

Am 1. April leistet sich das Wetter höchstpersönlich einen Aprilscherz, „Der April macht was er will“ wäre vermutlich auch eine korrekte Einleitung, denn richtiger Schneefall ist im Frühling in diesen Breiten ja doch eher die Ausnahme (geworden?), besonders wenn man bedenkt, dass es diesen Winter praktisch gar kein richtiges Schneewetter gab. Mir persönlich sind Blütenblätter in Kombination mit Schnee bis letztes Jahr auf jeden Fall praktisch unbekannt gewesen. 

Schneefall am 5. April 2021 im Garten mit Kirschblüte

Letztes Jahr ist der Schnee allerdings nicht liegen geblieben. Prüfungsstress hätte mir aber auch sowieso das Gassi gehen mit der Fotokamera versagt. Diesmal sieht es anders aus. Der Schnee bleibt liegen, das Semester startet erst am 4. und die Zeitumstellung sorgt dafür, dass es gegen 18 Uhr noch taghell ist. Für Leute mit gänzlich degeneriertem Schlafrhythmus ist das doch sehr hilfreich. Die unübliche Situation treibt mich also vor die Haustür mit dem Ziel „irgendwie Grün mit Schnee drauf“ zu fotografieren.

Die Erfüllung lässt nicht lange auf sich warten. Im Garten der Nachbarn wachsen fröhliche Osterglocken, die sich unter der ungewohnten Schneelast etwas krümmen müssen.

Der weitere Weg bedarf keiner Überlegung. Es geht die Straße runter und in den Wald, der ohne Grün bei frischem Schnee schon immer aussieht wie aus dem Bilderbuch. Obwohl es erst Anfang April ist, finden sich zu meiner Überraschung noch in der Straße viele sommergrüne Sträucher und Bäumchen, die schon ihre ersten zarten Blätter ins Licht strecken

Obwohl die großen Buchen und Eichen noch kahl sind, erkennt man an Büschen viele grüne Blätter unter der sanften Puderzuckerschicht. Man merkt, wie der Frühling bereitsteht herauszuplatzen um alles wieder zu einem satten, undurchsichtigen und schattigen Geflecht voll von Gerüchen, Vogelrufen und Bachgeplätscher zu verwandeln. Doch noch steht der Wald sanft und stumm: der wenige Schnee schluckt den Schall.

Ein frecher Feldahornsprössling will sich unter den alteingesessenen Buchen und Eichen behaupten.
Die Konkurrenz ist übermächtig und wird in drei bis vier Wochen direktes Sonnenlicht vom Waldboden fast vollständig aussperren.

Es zieht mich weiter durch den Wald.

Jetzt wird es absurd. Im Vordergrund das blattlose Geäst und Schnee, während am Horizont ein riesiges reifes Weizenfeld zu sehen ist:

April, April! Ganz so verdreht ist die Welt doch nicht. Am Horizont erstreckt sich das neue Paketzentrum. Google sagt Weizen ist i. d. R. im Juli erntereif. Damit ist jetzt die ganze kalte frühfrühlingshafte Stimmung ruiniert!

Der Schnee wollte schmelzen, doch durfte noch nicht. Das Tauwasser ist langsam wieder festgefroren, sodass sich ein Tropfen ganz aus klarem Eis gebildet hat.

Am anderen Waldrand angekommen, führt mich mein Weg auf eine schmale Straße zwischen zwei kleinen Feldern. Auf der linken Seite stehen wunderbar aus der Zeit gefallene alte Leitungen.

Das Gras, das durch den Schnee sticht ist schon saftig und grün, dahinter ein Feld, auf dem es auch schon fleißig grünt und Häuschen die genauso gut in Sibirien stehen könnten.

Und zur Rechten freuen sich junge Obstbäume schon auf Licht und Wärme:

Nur wenige Meter weiter ist zwischen den Zweigen eine Ruine zu erkennen.

Verlassenes Haus aus roten Ziegeln
Bauzeit: vrmtl. um 1900
Verlassen: vrmtl. 1990er
Architekt: unbekannt

Ohne Dach gibt es nichts mehr, was den Schnee am eindringen hindert. Dieses schöne Ziegelhaus hat den Wandel der Zeit nicht gut überstanden. Versteckt zwischen Wald und einem kleinen Hof gelegen, überwuchert von Sträuchern ragen die zwei Giebelwände noch deutlich empor. Höher noch hebt sich die Antenne in den Äther, als gäbe es hier noch jemanden der etwas empfängt. Doch der Dachstuhl ist eingestürzt, auch der Dachboden fehlt. Die Sträucher wuchern bis zur Traufe und den Giebel hoch, hinauf bis über den Schornstein. Die im Kreuzverband gemauerten Ziegel mit schmucken Gesimsbändern und gemauerten Flachstürzen sind simpel aber schön; Zeugnis heute selten gewordener Handwerkskunst.

Errichtet wurde das Haus ganz in der Nähe vom ehemaligen Gelände der Zeche Dannenbaum in Bochum-Laer. Eine Verbindung zur Bergbauvergangenheit liegt nicht nur räumlich nahe. Die Architektur ist typisch für die „Zechenhäuser“ der Jahrhundertwende. 1958 schloss Dannenbaum die Pforten. Die Kohlekrise war in vollem Gange, der Niedergang des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet nicht aufzuhalten. Der Strukturwandel vollzog sich unausweichlich. Bochum bemühte sich neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Adam Opel AG konnte man für den Standort Bochum gewinnen, nicht ohne erhebliches Eigenrisiko für die Stadt Bochum. Man erklärte sich bereit für Verluste infolge eventueller Bergschäden zu haften. Die Ersatzzahlungen – wäre dieser Fall eingetreten – wären enorm gewesen. Das alte Zechenhaus überlebte Dannenbaum und die Kohlekrise. Die westliche Giebelwand wurde vermutlich in den 70er- oder 80er-Jahren mit einer wunderbar-hässlichen gelben Verkleidung versehen.

Doch irgendwann danach muss das Haus verlassen worden sein. Erzählungen meines Bruders nach, war das Haus in der 2000ern schon eine Ruine. Die Google-Streetview-Aufnahmen von 2008 zeigen das Haus noch mit intaktem Dachstuhl, doch Zeichen des Verfalls sind schon offensichtlich. Auf diesen Bildern thront im Hintergrund noch der Abluftkamin der Opel-Lackiererei.

Wie das Haus vermutlich in der 90ern verlassen wurde, so setzte sich auch bei Opel der Wandel der Zeit fort. Die Automatisierung, besonders in Form von Schweißrobotern, reduzierte die Zahl der Opelangestellten von 20.000 zur Spitzenzeit auf ca. 10.800 Menschen im Jahr 2003. Bis 2014 überlebte Opel das Zechenhaus, bis sich die nächste Stufe des Strukturwandels auch hier abspielte.

2014 schließt Opel in Bochum seine Pforten, bis auf ein Ersatzteillager in Langendreer. Der Abluftkamin, der auf der Streetview-Aufnahme zu sehen war ist hier schon verschwunden und die ehemalige Lackiererei aus den 1980ern nur noch ein abstraktes Stahlskelett.

Während Witterung, Vandalismus und Vergessen schon seit Jahren an dem Haus nagten, verschwand der Opel-Kamin aus dem Blick auf das Haus. Wieder bemüht sich die Stadt die Folgen des Wandels abzufangen. „Mark 51’7“ nennt sich das Gelände von Dannenbaum und Opel jetzt, in dem verständlichen Bestreben die Assoziation mit dem Niedergang der Industrie zu meiden.

Das Haus, als Zechenhaus ein Produkt des primären Wirtschaftssektors nebenan, erlebte den Wandel von der Rohstoffförderung zu deren Verarbeitung und als Ruine schließlich zur Teritärisierung, zur Forschungs- und Dienstleistungsgesellschaft. Doch Arbeitsplätze, die so simpel und ehrlich sind wie das Ziegelhaus, bieten die neuen Einrichtungen wenig. Der Automatisierungsgrad im Paketzentrum beispielsweise ist hoch. High-Tech und Forschung suchen nach Akademikern, nicht nach Arbeitern. Schlecht für die Malocher von Nokia und Opel. Was jetzt kommt und schon im Gange ist, muss allen voran die Versöhnung mit der Natur suchen: Nachhaltigkeit, die das Haus vermutlich hätte retten können; zu spät, hoffentlich nicht für uns. Es scheint wenig ist von Dauer, selbst Backstein und Mörtel – wie der Schnee im Frühjahr schmelzen sie dahin. Veränderung, Neuanfang und Wiedergeburt sind die Konstanten menschlichen Schaffens. Der Lauf der Dinge interessiert sich doch wenig für unseren Hang zu längst Vergangenem. Willy Brandts Forderung von 1961 hat sich erfüllt. Der Himmel über der Ruhr ist wieder blau, wie einst vor der Zeit von Zechen, Kokereien und Stahlwerken. Der Steinkohlebergbau entlang der Ruhr zeigte sich vergänglich. 2018 wurden in Prosper-Haniel die letzten Kohlestücke zu Tage gebracht. Auch der Stahlriese Thyssenkrupp strauchelt mit seinen letzten Standorten. Das rote Zechenhaus ist vergessen, kehrt zur Natur zurück. Auch wir brauchen sie lebendig und intakt. Doch die Vergangenheit unserer Heimat vergessen wir nicht. In unserer Kultur, in unserer Identität, in unseren Herzen lebt die Schwerindustrie weiter. Die alten Anlagen werden oft erhalten und umgenutzt, blühen wieder auf, nicht selten als Veranstaltungsorte, Mittelpunkte des öffentlichen Lebens. Das Erinnern eint die gesamte Region. Das Zechenhaus, die Steinkohle, Stahl und Rauch – Vergängliches – sind letzten Endes doch nicht nur Schall und Rauch gewesen.

Lange bevor
Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak
Gab es in jedem Jahr
Die Zeit der unaufhaltsam und heftig grünenden Bäume
Wir alle erinnern uns
Verlängerter Tage
Helleren Himmels
Änderungen der Luft
Des gewiß kommenden Frühjahrs.
Noch lesen wir in Büchern
Von dieser gefeierten Jahreszeit
Und doch sind schon lange
Nicht mehr gesichtet worden über unseren Städten
Die berühmten Schwärme der Vögel.
Am ehesten noch sitzend in Eisenbahnen
Fällt dem Volk das Frühjahr auf.
Die Ebenen zeigen es
In aller Deutlichkeit.
In großer Höhe freilich
Scheinen Stürme zu gehen:
Sie berühren nur mehr
Unsere Antennen.

Über das Frühjahr von Bertolt Brecht


Postscriptum:

Schon immer war ich großer Fan von Klinker, Ziegeln und Backsteinen. Der genaue Unterschied zwischen den Dreien war für mich jedoch meist unklar. Korrekterweise dachte ich aber schon immer bei „Klinker“ oder „Verklinkerung“ an eine glatte und bei „Ziegel“ oder „Backstein“ an eine eher raue Oberflächenbeschaffenheit. Im Sprachgebrauch an der Uni wurden alle drei Begriffe jedoch des Öfteren durcheinandergewürfelt, ohne eine Richtigstellung durch Lehrende. Kurzfristig gelangte ich zu der Vermutung, die Begriffe seien tatsächlich austauschbar. Eine kurze Internetrecherche offenbart aber: Klinkersteine werden am heißesten gebrannt, bei Temperaturen bis 1200°C. Sie bestehen aus einem Ton mit einem höheren Anteil an Alumosilikaten. Die Poren des Materials verschließen sich, sodass Klinker besonders widerstandsfähig gegen Feuchtigkeit ist. Ziegel werden bei 900-1100°C gebrannt, sind offenporiger und nehmen daher auch Feuchtigkeit besser auf. Backsteine können noch offenporiger sein und werden bei 900°C gebrannt, allerdings wird die Terminologie hier scheinbar je nach Region etwas haariger. Festzuhalten ist: Klinker nehmen wenig Feuchtigkeit auf, eignen sich für Sichtmauerwerk an Außenfassaden, Ziegel nehmen viel Feuchtigkeit auf, müssen verputzt werden um Frostschäden zu vermeiden.

An der alten Hausruine ist mir außerdem aufgefallen, dass mir der Unterschied zwischen Kreuz- und Blockverband im Mauerwerk doch noch nicht so klar war, wie ich dachte. Hier also der Versuch einer Erklärung für mich und alle, die es interessiert (und Bilder mit echten Miniaturziegeln in selbstgemauerten Miniaturwänden!):

Sowohl im Kreuzverband, als auch im Blockverband wechseln sich Binder- und Läuferschichten ab. Sieht man die schmale Seite eines Mauerwerksteins, so bezeichnet man ihn als „Binder“ (oder Kopf), sieht man die breite Seite, bezeichnet man ihn als „Läufer“. Außerdem sind Stoßfugen die vertikalen, Lagerfugen die horizontalen Fugen.

Beim Blockverband liegen jeweils die Stoßfugen der Binder und die Stoßfugen der Läufer auf einer Linie. Versatz entsteht nur durch den Wechsel von Läufern und Bindern. Das Muster wiederholt sich jede zweite Reihe.

Beim Kreuzverband liegen die Stoßfugen der Binder auf einer Linie, die der Läuferschicht sind aber zueinander um eine halbe Steinlänge versetzt. In diesem Beispiel gibt es 5 Läuferschichten. Die Stoßfugen von Läuferschicht 1, 3 und 5 sind auf einer Linie, sowie die Stoßfugen von Läuferschicht 2 und 4. Das Muster wiederholt sich jede 4. Reihe.

Die farbliche Hervorhebung ist natürlich nicht Teil des Mauerwerksverbands, sondern soll nur das Prinzip deutlicher machen. Auch die unterschiedliche Form der Mauerausschnitte soll nicht vom Prinzip ablenken. Ich glaube, mir persönlich gefällt der komplexere Kreuzverband besser. Beide sind aber sehr schick, finde ich.

Dieser Beitrag ist rückdatiert auf das Aufnahmedatum der Fotografien/das Datum der ursprünglichen Konzeptualisierung, eigentliches Veröffentlichungsdatum ist der 31. August 2022.