[#59] Den Todesstoß dem Herzen der Dortmunder Universität: Verlust der Universitätsbibliothek

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Universitätsbibliothek der Technischen Universität Dortmund

Bauzeit: 1974-1976
Architekt: Albin Hennig, Dieter Dietrich, Architekten BDA, Mitarbeiter Gerhard Fritz, Uwe Sörensen
Status: bedroht
Geplanter Abriss: 2024
Vogelpothsweg 76

Das 47 Jahre junge Monster lebt auf geborgter Zeit. Abrissphantasien schwirren schon länger durch die Luft.  

Der Teppichboden schluckt den Schall. Draußen zieht geschäftiges Treiben vorbei. Es ist, als sitze man im Eisenbahnwaggon oder auf der Brücke eines Schiffs. Durch das Fensterband betrachtet man in Seelenruhe was unten vorbeizieht. Sanft raschelt Laub auf Augenhöhe. Sonst gelassene Stille. Hier wird gelernt, sich auch konzentriert, aber hier gibt es keine Prüfungen, keine Professoren und keine Creditpoints: Ein Raum für die Studierenden. Überraschend, wie respektvoll alle die Stille wahren. Menschlich, von übersichtlicher Dimension ist die Großform der Bibliothek hier, fast häuslich. Wie gemütliche Galerien in einem Wohnzimmer fühlen sich die kleinen Wendeltreppen in den Lufträumen an, umgeben von Wänden aus Beton, Glas, Blech, Regalen voller Leinen-, Leder- und Papereinbänden.

Sucht man das Gespräch, geht man ins Erdgeschoss. Kein Ruhebereich: Hier findet Austausch statt. Lebendig, manchmal auch chaotisch ist es. Das Lernen im Erdgeschoss ist Kult unter den Studierenden. Seitdem der anstehende Abriss kommuniziert wird, verabschiedet sich der populäre Instagram-Account tudortmundmemes von der Bib.

In Kommentaren bekunden Studierende ihre Trauer. Nicht Architekturstudierende, die der Nachkriegsmoderne verfallen sind, nicht radikale Klimaschützer, sondern eine breite Masse ist traurig, dass die Bib verschwinden soll. Ein Maschinenbaustudent fordert die Unterschutzstellung ein. Wir sprechen mit einem an der Uni angestellten Fotografen, kein Freund von Brutalismus: Die RUB sei ja hässlich, da steht so viel unter Denkmalschutz, Unverständnis, dass stattdessen »so etwas Besonderes« weichen muss. Wir sprechen mit Kommilitonen, die mit uns Architektur studieren: Klare Sympathien, aber auch Ablehnung für Brutalismus, dabei aber immer Anerkennung für das hohe Maß an Gestaltung. Wir sprechen in der Kneipe, auf dem Unifest, beim Warten auf der Mensabrücke mit Maschinenbauern, Lehrämtlern, Wirtschaftswissenschaftlern: Sympathie überwiegt. Sätze wie »so hässlich, dass es schon wieder geil ist«, »auf jeden Fall besser als der langweilige Neubau«, »sie gehört nunmal dazu«. Sympathien für den Neubau gibt es nur weil er dann »moderner« sei, kein einziges positives Wort zum Dudler-Entwurf. Meist Ablehnung des Neubaus: »viel zu groß«, »autoritär«, »Betonkäfig«, »anonym«, »austauschbar«. Auffallend oft Ablehnung von Brutalismus (Physik-Gebäude, EF50, RUB), bei gleichzeitig hoher Wertschätzung der Bibliothek. In den letzten Stunden der regulären Öffnungszeit vor ihrer permanenten Schließung fertigen Studierende aller erdenklicher Disziplinen letzte Fotos an, Pizzakartons stapeln sich von kleinen Abschiedsfeiern.

Noch um Mitternacht, nachdem die Türen verfrüht für immer geschlossen wurden, lassen die Studierenden nicht los. Post-Its mit Abschiedsnachrichten hat man am nächsten Morgen schon wieder verschwinden lassen. Ein Sicherheitsmann schildert uns seine Erfahrungen von 16 Jahren in der Universitätsbibliothek, unter anderem, wie zwei Studierende im Hörsaal im Erdgeschoss ihre Hochzeit gefeiert haben, nachdem sie sich beim Lernen in der Bibliothek kennengelernt haben. Ohne Zweifel ist das Gebäude identitätsstiftend für die viele Angehörige der TU Dortmund. Ratlosigkeit warum sie abgerissen werden muss. Seine Idee: Kanzler und Rektor sollen sich ihr schickes neues Büro doch auf dem Parkplatz neben der A40 bauen lassen.

2018 zeichnet die Initiative »Big Beautiful Buildings« das Ensemble aus Mensa, Mathe-Turm, EF50 und H-Bahn aus. Der abseitsstehende, von seinem Architekten verschmähte »Fertigbaukasten« und von den Studierenden als »Bunker« betitelte Bau der ehemaligen pädagogischen Hochschule EF50, welcher sich »weniger durch seine architektonische Qualität als durch [seine] flexiblen Strukturen« auszeichne, gehört dazu, auch der NRW-75-Baukasten-Matheturm (unter Studierenden auch »Selbstmordturm«). Die anspruchsvoll gestaltete Universitätsbibliothek inmitten der Vier nicht: Abriss weil sie nicht »beispielhaft« ist oder ist sie nicht »beispielhaft«, weil man sie abreißen will? Im Privatgespräch teilt ein Lehrender uns mit, dass man sie ausgelassen hat, weil man sich damals den Abriss schon gewünscht hat. Architekturhistoriker Hans H. Hanke schreibt über das Ensemble: »Obwohl den Hausbau der Universität Planungswechsel, Finanzierungsprobleme und Konzeptwechsel prägen, zeichnet den Zentralbereich eine erlebbare Einheit von Individuen aus.«. Das lockere Zusammenspiel mit seinen wohlproportionierten Freiflächen, die ineinanderfließenden Plätze, Wege und Grünflächen sind Aufenthaltsqualitäten, die aus eigener Erfahrung täglich von vielen genutzt werden. Prof. Dr. Ursula Gather, die später den Abriss vorantrieb, erkannte die UB »zentral gelegen« als »das Herz der Universität«, als »beliebten Ort zum Lernen, Lesen und Schreiben für viele Studierende«“. Auch Hanke sieht eine »komfortable Bibliothek«, die [c]harakteristisches Herzstück der TU Dortmund«. ist und deren »denkmalrechtliche Würdigung« ausstehe.

Ihre Formen regen die Phantasie von vielen die man fragt an. Das Gesamtgebilde sei ein großer Käfer mit dünnen Beinchen, das Dach eine Toblerone. Die Fachliteratur spricht von einem »Zinnenkranz«. Tatsächlich sollen die Zinnen den Audi Max in Bochum zitieren. Das Verhältnis zur Bochumer Universität in Architektur kommuniziert durch Kontrast und Ähnlichkeit: Konkurrenz und Kooperation.

Bochum ist mit seinem orthogonalen Raster dominiert von strenger Regelmäßigkeit, auch die UB dort von Bruno Lambart ist eckiger, klotziger. Die RUB-Verwaltung von Albin Hennig mit großer Ähnlichkeit – auch Weserkies, auch lange Beine, auch verschwindende untere Geschosse – ist ähnlich und doch unmissverständlich RUB, weil sie eben Ecken hat.

Dortmund ist der Gegenentwurf: Weiche 45-Grad-Kanten lassen einen vorbeigleiten. Ein lockeres Zusammenspiel mit wohlproportionierten Freiflächen, mit ineinanderfließenden, plätschernden Wegen, Plätzen und Grünflächen. In Dortmund hebt sich ein Maulwurfshügel aus der grünen Wiese. Das ganze Ensemble kriegt durch die durch die Luft schwirrende H-Bahn noch ein Sahnehäubchen.

Doch selbst für Studierende, die keinen großen Wert im Erhalt des Bestandsgebäudes sehen, ist es nur belästigend, dass das Herz nicht mehr schlägt. Das Gebäude, was die Lernplätze ersetzen soll, ist ein notdürftiger Containerbau, der mit einer Hand voll Studierender bereits überlastet ist und nicht einmal einen Aufenthaltsraum für den von der Uni selbst bestellten Pförtner hat (»Glaubt ihr ich möchte hier sein?«) und die Sebrathsbibliothek ist lässige 1,8 km vom Zentralbereich entfernt, 16 Minuten mit dem Bus. Der Neubau soll, wenn alles ohne Verzögerung im Sinne der Bauherren läuft, 2028/29 fertiggestellt sein. Das bedeutet, es wird viele Studierende geben, die nie eine funktionierende Universitätsbibliothek gekannt haben.

Auch wenn unsere Bibliothek ihr Aussehen trägt, die Welt vor der Ölkrise kennt sie nicht, die Wände sind mehrschalig als Beton-Sandwich-Konstruktion ausgeführt. Das Fensterband hat feststehende Sonnenblenden, um die Mittagssonne auszusperren, Sheddächer lassen Nordlicht herein um das natürliche Licht auszunutzen. Der 60er-Bau der Württembergischen Landesbibliothek weist u.a. durch seine Kerndämmung, einer nach Sonnenstand ausgerichteten Kubatur und frühe Isolierverglasung, so gute Wärmedämmeigenschaften auf, dass die Bauphysiker verblüfft zweimal nachgerechnet haben, Merkmale die unser Bestandgebäude auch aufweist. Ob so eine Prüfung bei uns stattgefunden hat, ist mir nicht bekannt, zumindest werden nirgendwo konkrete Zahlen genannt. Das Bestandsgebäude sei nur »energetisch höchst ineffizient«, eine »Ertüchtigung des Altbaus […] unwirtschaftlich«. Die Folgekosten von Treibhausgasemissionen sind heute bezifferbar und trotzdem nicht Teil der Rechnung. Bekannt sollte sein, dass 600kg CO2-Emissionen pro Tonne Beton anfallen, Ca. 8% der globalen Treibhausgasemissionen fallen auf die Produktion und Verwendung von Beton an. Eine einzelne 7,5×7,5m-Bodenplatte der Bochumer Universitätsgebäude beispielsweise wiegt 36 Tonnen. Der Neubau soll 9 Geschosse aufweisen, auf dem gleichen ca. 80x60m großen Grundstück, wie die jetzige Bibliothek. Der grobe Überschlag ergibt 15,5 Millionen Kilo CO2, nur für den Beton der Bodenplatten. Man will »alle heutigen Standorte der Universitätsbibliothek integrieren«, eine Zentralisierung vornehmen, damit beispielsweise Architekten, Bauingenieure und Raumplaner in Zukunft vom Südcampus pendeln dürfen, um etwas nachzuschlagen. Man würde sich wünschen, dass die Verantwortlichen beim BLB NRW und an der TU Dortmund die Mode von heute und morgen erkennen und Unmengen gespeicherter grauer Energie nicht verschwenden. Das Versprechen des »Materialkatasters« ist angesichts der schieren Menge an Materialien, die wohl kaum wiederverwendet werden nur lachhaft. Ortbeton, schrillgelbe Teppichböden, ein proprietäres knallig rotes Regalsystem von Thyssen, direkt aus den Hochöfen des Ruhrgebiets.

Das Dach bietet große Flächen für eine Photovoltaikanlage. Der Bestandsbau hat ca. 1000 Lernplätze, der Neubau soll nur 500 mehr haben. Eine Zahl, die das Bestandsgebäude ohne Probleme übertreffen würde, wenn man die Büros des 1. OGs auslagern und in Lernräume umwandeln würde. Auch »Begegnungsräume« gibt es im EG des Bestandsbaus. Räumt man die Automaten weg und stellt stattdessen eine Kaffeetheke auf, ist auch diese Forderung des Neubaus erfüllt, warum das nötig sein soll, erschließt sich mir jedoch nicht. Das Campusnavi listet im 200m-Umkreis nicht weniger als sieben gastronomische Angebote, darunter direkt gegenüber die bereits erwähnte Hauptmensa und noch näher die Food-Fakultät.

Max Dudler, Architekt des geplanten Neubaus, propagiert auf seiner Website das Mantra des Weiterbauens und wolle »nichts […] halten von Modeströmungen, die sich nur als kurzlebige Lösungen erweisen«. Für uns hat er jedoch kein Weiterbauen übrig, sondern nur eine verschwenderische Abrissorgie.

Mode ist es, die Aufbruchsarchitektur der Nachkriegszeit zu verschmähen, ihre Qualitäten zu ignorieren. Mode ist es, in Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit das bauliche Erbe eines funktionierenden Wohlfahrtsstaats – von »Bildung für Alle« – zu tilgen und gegen die sterile Hochglanzästhetik des liberalen Ellbogenkapitalismus zu ersetzen.

Der leitende Bibiliotheksdirektor wusste 2015 schon, dass die Bibliothek »immer mehr zum zentralen Servicezentrum der TU« wird und von »3.800 Besuchern täglich stark frequentiert wird«, 2017 äußert er »[d]ie UB ist seit Langem mehr als nur ein Bücherlager… Ja, sie ist ein beliebter Lern- und Kommunikationsort. Das wird sie künftig noch mehr sein.«. 2019 wird als Grund, dass man abreißen müsse, jetzt der gleiche Bibliotheksdirektor zitiert: »Die Bibliothek als reines Bücherlager hat sich längst überlebt.«, man brauche »ein Servicezentrum für die gesamte TU Dortmund«.

Will man Aufnahmen anfertigen, ohne die Persönlichkeitsrechte unzähliger Studierender zu verletzen, empfiehlt sich ein Samstagabend am Semesteranfang während eines BVB-Heimspiels. Selbst dann sitzen noch Einige konzentriert an den Tischen. Das »reine Bücherlager« ist normalerweise bis zum Ende der Öffnungszeiten vollgepackt mit Studierenden, die sich aus unerklärlichen Gründen dort aufhalten wollen.

Ob der vergitterte Glaskasten, der an der Stelle des Bibliotheksbaus entstehen soll, wirklich »Strahlkraft für die gesamte Region« haben wird, wie die damalige Rektorin angekündigt hat, oder letzten Endes nicht doch wirken wird, wie ein beliebiges Büro- oder Verwaltungsgebäude in Slough, Pittsburgh oder Braubach, lässt sich erahnen. Von dem Entwurf einen – von der Rektorin implizierten – Bilbaoeffekt zu erwarten, kann wirklich nur Stirnrunzeln erzeugen. Viel mehr wird der Neubau ohne große gestalterische Ansprüche und dafür umso größerer Präsenz und Strenge das bestehende Ensemble stören und entwerten: Neun Geschosse um Studierenden den siebten täglichen Kaffee anzudrehen, die Konjunktur der Bauindustrie am Leben zu halten und vermutlich, weil Kanzler und Rektor keine Lust mehr auf ihre Büros am Südcampus haben.

»Abreißen kann man immer alles, es ist die Frage, ob’s dann besser wird. Wir können uns gar nicht leisten alles abzureißen, wenn’s gleich oder ähnlich wieder aufgestellt wird […]. «

Fritz Eller

Die vier „Big Beautiful Buildings“ verlieren ihre totgeschwiegene Schwester, sie ist in den Todestrakt überführt, die Türen für immer verschlossen. Die verurteile Generation Xerin ist zu jung, um als „Best-Ager“ durchzugehen. Noch 20 Jahre fehlen ihr bis zur Rente. Der Tötungsakt soll nächstes Frühjahr vollzogen werden.

Verlust von Erinnerung, Charakter, Identität, Architektur und den edlen Ambitionen vergangener Tage.

Verlust eines idealen Ensembles der Nachkriegsmoderne.

Verlust von Unmengen grauer Energie.

Verlust unserer Bib.

Tod mit 47 Jahren.

Quellen: [ausklappen] ↴

Gespräch mit Sicherheitspersonal
Gespräche mit Studierenden
Gespräche mit Lehrpersonal

https://bigbeautifulbuildings.de/objekte/mensa-der-technischen-universitaet-dortmund
https://bigbeautifulbuildings.de/objekte/technische-universitaet-dortmund
https://bigbeautifulbuildings.de/objekte/tu-dortmund-ef50
https://bigbeautifulbuildings.de/objekte/h-bahn-der-technischen-universitaet-dortmund
https://www.gg-architekt.de/projekte/unibibdort/projekt_unibibdort.php
https://www.tu-dortmund.de/storages/tu_website/Referat_1/Presseseite/Pressemitteilungen/PM_2019/2019_208_neue_Bibliothek.pdf

https://vs-architekten.de/neue-bibliothek-fuer-die-tu-dortmun
https://www.maxdudler.de/
https://vs-architekten.de/neue-bibliothek-fuer-die-tu-dortmund
https://www.tu-dortmund.de/beschaeftigte/campus/bauprojekte/
https://www.archlab.de/projekte/forschung/tu-bibliothek-dortmund/

Deutsche Bauzeitschrift, Ausgabe 5/82

50 FESTSCHRIFT – Universitätsbibliothek – 1965-2015, Hrsg. Technische Universität Dortmund, V.i.S.d.P.: Bibliotheksdirektor Dr. Joachim Kreische, 2015

50 Jahre Technische Universität Dortmund, Hrsg. Technische Universität Dortmund, Referat Hochschulkommunikation, 2017

Tim Rieniets, Christine Kämmerer, StadtBauKultur NRW: Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet – Als die Zukunft gebaut wurde, ISBN 978-3-86206-758-9

Cornelia Jöchner, Frank Schmitz, Hrsg. Richard Hoppe-Sailer: Ruhr-Universität Bochum – Architektur der Nachkriegsmoderne, ISBN 978-3-7861-2744-4

Alexandra Apfelbaum: Bruno Lambart: Architektur im Wandel der Bonner Republik, ISBN 978-3-86206-661-2

Yasemin Utku, Christa Reicher, Alexandra Apfelbaum, Martin Bredenbeck Magdalena Leyser-Droste: Im großen Maßstab – Riesen in der Stadt- Beiträge zur städtebaulichen Denkmalpflege, Klartext Verlag, Essen, 2017, ISBN: 978-3-8375-1703-3


Porki #58 – Deilmann Teil 1: Flexibles Wohnen


Harald Deilmann hat mit seinem Büro ein halbes Jahrhundert lang in der Bundesrepublik und international das Antlitz von Städten geprägt. Mit dem 407-seitigen Ausstellungskatalog, in dem seine Projekte präsentiert sind, (! Achtung Witz:) könnte man die für den Abriss des Volkswohlbundhochhauses Verantwortlichen wohl ordentlich verhauen. Diese Sprengung der Hauptverwaltung der Versicherung am Südwall in Dortmund war 2008 mein erster Kontakt mit dem Werk von Harald Deilmann, selbst festgehalten auf meiner Point-And-Shoot. Ich hab damals wahrscheinlich das unreflektierte Merhheitsdogma nachgeplappert und behauptet, ich fände diesen Betonklotz hässlich, ich bin mir nicht sicher. Mit 10 Jahren hatte ich logischerweise keine besonders differenzierte Meinung zu Architektur und wusste ich natürlich nicht, dass ich eines Tages Architektur an der Fakultät studieren würde, dessen geistiger Vater ausgerechnet Deilmann ist. Woran ich mich aber sehr gut erinnern kann, ist, dass ich lange nicht nachvollziehen konnte, wie es Sinn machen kann ein intaktes Gebäude zu zerstören. Der Wahnsinn unserer Wegwerfgesellschaft widerspricht nicht nur Logik, sondern sogar kindlichster Logik! Nur 35 Jahre hat man die tausenden Tonnen Stahl und Beton genutzt, bevor man sie wieder pulverisiert hat. Heute erkenne ich den architektonischen Wert des verlorengegangenen natürlich und die geringen gestalterischen Ansprüche des Neubaus auch. Bauwelt hat 2007 schon die Qualitäten des Deilmann-Baus erkannt und zurecht die Wettbewerbsentwürfe kritisiert. Doch dem Volkswohlbund-Hochhaus kann ich leider keinen eigenen Post widmen, wenn nicht eines Tages noch eine alte Festplatte mit meinen ersten selbstgeschossenen Fotos auftaucht. Aber Gott sei Dank gibt es noch mehr von Deilmann, was auch stehengeblieben ist, mal stadtbildprägend, mal versteckt am Rand. Um diese Bauwerke soll es hier gehen. Zunächst in Dortmund, eventuell dann auch woanders.


Flexibles Wohnen
Architekten: Harald Deilmann, Gerhard Bickenbach, Herbert Pfeiffer
Außenraumgestaltung: Rudolf Skribbe
Bauzeit: 1973-75

Im Dortmunder Südwesten, zwischen Universität, Ruhrschnellweg und Stockumer Straße findet man eine kleine heile Welt. In Schönau, Klein- und Groß-Barop durchziehen enge, kurvige Straßen das Gebiet um Emscher und Rüpingsbach. Eine Kapelle von 1348, Fachwerk und kleine Ein- und Zweifamilienhäusschen säumen die geschlängelten Straßen. Dort am Übergang von Studierendenwohnheimen zum bürgerlichen Häuschenglück, inmitten von Bäumen, Bachgeplätscher und grünen Wiesen, sind zwischen den Zweigen schrecklich-schöne Waschbetonplatten zu erkennen. Obwohl das Ensemble in Volumen und Höhe das restliche Klein-Barop deutlich übertrifft, übersieht man es fast. So eingebettet in Grün gibt es kaum Sichtachsen über die man die Baukörper in ihrer Gänze betrachten könnte. Geht man nur dran vorbei, könnte man den großen Fertigbauteilen abkaufen, dass hier ordinärer 70er-Jahre-Sozialwohnungsbau ohne besondere gestalterische Ansprüche betrieben wurde, wie an so vielen anderen Stellen in den Vororten und Randbezirken auch (nicht, dass ich das nicht auch charmant finden würde).

Fast übersehen: Versunken und umhüllt in saftigem Grün

Verweilt man einen Augenblick, so fallen einem die abgerundeten Ecken und Aussparungen für die Fenster in den Platten auf. Schweift das Auge weiter, bleibt es an den weißen Erschließungskernen hängen, die einen starken Kontrast zu den graubraunen Waschbetonfertigplatten bilden. In jedem Stockwerk scheint ein abgerundeter Kasten an den Fensterrahmen zu hängen.

Ganz unten wächst noch ein Vordach aus dem – in der Literatur als Sichtbeton beschriebenem – hellen Material heraus und darunter farbcodierte Eingangstüren, Klingelschilder und Briefkästen passend dazu. Die Hausnummern davor haben ihre eigenen kleinen Betonskulpturen, darin integriert die kugeligen Laternen, die das Areal nachts erleuchten.

Man erschrickt fast, wie sauber und in Schuss alles ist. Passend zum Grün der Umgebung sind die Häuser üppig bewachsen. Wo der Waschbeton sonst im Winter vielleicht abweisend wirken könnte, ist er stattdessen in immergrünen Efeu gehüllt.

So überraschend hochwertig die Fertigbauteilklötze von außen sind, was den Komplex wirklich besonders macht, verbirgt sich im Innern. Der Gebäudekomplex ist nämlich Ergebnis eines Wettbewerbs, der 1971 vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ausgelobt wurde. Das Ministerium wollte die Möglichkeiten von Wohnungen mit flexibel veränderbaren Grundrissen untersuchen. Statt regulärer Wände, waren sogenannte Raumtrenner gefordert. In der Umsetzung von Deilmann können diese Raumtrenner ohne großen Aufwand und ohne Fachkenntnisse durch die Bewohner verschoben oder ganz entfernt werden. Der Bau wurde dementsprechend zusammen mit Projekten in Hamburg, Ulm und Geislingen als Forschungsprojekt durch Bundesmittel bezuschusst. Eine Nachuntersuchung aus dem Jahr 1980 bescheinigt dem Projekt Erfolg. Eine überwiegende Mehrheit der Bewohner hat den Grundriss selbst geplant und auch schon wieder Veränderungen durchgeführt. Eine Familie kritisierte damals, dass die zentrale Anordnung der unveränderlichen Nasszelle und zu wenig Antennen- und Telefonanschlüsse die Planungsfreiheit einschränken. Auch um eine „schönere“ Ausführung der Raumtrenner wird an gleicher Stelle gebeten. Kritik die wenig überrascht: Wo Raumtrenner standen, sind Abdrücke im Teppichboden erkennbar. Dabei muss aber erwähnt werden, wie wenige Bewohner überhaupt Kritik geäußert haben und wie positiv die Wohnungen damals angenommen wurden.

Dieser besorgte Nachbar konnte mir leider nichts zu Raumtrennern erzählen

Was vielleicht auch für die Qualität dieses Bauwerks spricht: Die soziale Kontrolle funktioniert. Während ich diese Fotos anfertige, steht nach nur wenigen Minuten eine Anwohnerin vor mir und fragt, was ich hier mache. Ich erkläre, dass ich Architektur studiere und um jeden Zweifel auszuräumen, dass ich nicht doch Fahrradkeller oder Kupferfallrohre ausspioniere, presse ich so schnell ich kann Begriffe wie „Deilmann“, „Flexibles Wohnen“, „Bundesmittel“, „Raumtrenner“, „Außenraumgestaltung“ heraus und erkundige mich bei der netten Dame über die Annehmlichkeiten.

Zu meiner Überraschung berichtet die Bewohnerin sofort von den flexiblen Raumtrennern. Die Grundrisse sind auch heute nicht erstarrt, die Raumtrenner sind nicht verloren gegangen oder festgedübelt worden. Jede Wohnung sieht anders aus, ist anders eingeteilt, weiß die nette Dame zu berichten. Das Konzept, von dem man erwarten würde, dass es nur in den ambitionierten 70ern funktionieren kann, ist nach 51 Jahren immer noch lebendig. Nur von den Fassadenplatten in Waschbeton sei sie zunächst abgeschreckt worden, daran gewöhne man sich aber.

Meine persönliche Nachuntersuchung mit einer einzelnen befragten Person ergibt also: Ein einzelner bleibender Kritikpunkt sind die zu kleinen Schießscharten in der Küche. Keine baulichen Mängel haben den Komplex dahingerafft. Kein Dorstener Habiflex, sondern ohne großes Aufsehen, wie selbstverständlich genutzter 70er-Zukunftsoptimismus.

Postscriptum:

Mäßig interessante Randnotiz: Ausgeführt wurde der Bau von der Leverkusener IMBAU, die ganz in der Nähe auch für den von seinem eigenen Architekten verschmähten „Fertigbaukasten“ verantwortlich war, dem Gebäude der ehemaligen pädagogischen Hochschule EF50 der TU Dortmund. Auch dort kamen Fertigbauteile zum Einsatz, jedoch in einem viel größeren Maßstab.

Quellen:

Porki #57 und die grandiose Schönheit des Grauens

Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich – wie die Schöpfung – in grandioser Schönheit vollziehen.

Blaise Pascal, nach Werner Herzog

Die Ungetüme fressen den Boden. Sie wissen nicht warum, nicht wohin. Sie wissen nur, dass sie fressen müssen. Die Erde fressen sie und ganze Wälder, Dörfer, Geschichte; sie fressen und fressen, unermüdlich Tag und Nacht. Keine Rast für die unermüdlichen Biester, ob klirrende Kälte oder gleißende Hitze. Schlucken dürfen sie ihre Nahrung nicht: Verbrannt wird sie in großen Öfen, den Planeten zu kochen. Gierige Menschen haben sich in ihren Hirnen eingenistet, sie zu kontrollieren und zu treiben. Die Elektrizität fließt durch Drahtseile, wie Nervenbahnen durch die Landschaft. „Konsum“ nennen sie es, wofür sie die Biester schufen, die Öfen befeuern und den Strom ins Land schicken. Mehr und immer neue stählerne Vögel, schwere Blechkisten, leuchtende Scheiben. Und haben sie genug von so viel Greifbarem, bilden sie sich Dinge ein: Geld, welches nur als unwirklich kleine Magnetisierungen auf tausenden Metallscheiben besteht, für die der Strom schwere Rechenaufgaben tragen muss. Die großen Schaufelräder müssen sich um jeden Preis drehen. Keine Rast bis der Boden taut, das Eis schmilzt und die Meere über die Ufer treten, keine Rast, bis die Vögel vom Himmel fallen und wir endlich unseren rettenden Hitzetod gefunden haben.

Und reicht es den Menschen vorher, so droht den Biestern nur der Tod. Man wird ihnen Dynamit in die Eingeweide stecken, ihre Reste in die Flammen werfen. Zu gewaltig für die Umsiedlung: Das gleiche Schicksal wie die Wälder und Häuser, die sie einst fraßen.

Ein Blick auf die grandiose Schönheit unseres globalen Kollektivsuizids.

Kein Blick mehr auf die Ortschaften
Reisdorf (†1963),
St. Leonhard († 1963),
Darshoven († 1967),
Epprath-Tollhaus († 1968),
Geddenberg († 1969),
Muchhaus († 1969),
Oberschlag († 1969),
Omagen († 1976),
Morken-Harff († 1976),
Königshoven († 1983),
Elfgen († 1987),
Belmen († 1988),
Jüchen-Süd,
Priesterath († 1997),
Stolzenberg († 2000),
Garzweiler († 2003),
Holz († 2008),
Otzenrath († 2006),
Spenrath († 2008),
Pesch († 2014),
Borschemich († 2017),
Immerath († 2022),
Lützerath († 19.1.2023)

Der Mensch ist es leid geworden. Ein Ende des Wahnsinns ist in Sicht. Zu spät für viele Quadratkilometer verlorene Heimat von 45.000.

Bald füttern wir die gewaltigen Biester mit Dynamit.

Bagger 285 wird dieses todgeweihte Biest genannt. So schwer wie 2250 ausgewachsene Elefanten, stark wie 18500 Pferde. Fast so hoch wie Hyperion, der höchste Baum und doppelt so lang. 8300 Kubikmeter Erde frisst es pro Stunde aus dem Boden, Tag und Nacht, unermüdlich seit 48 Jahren, 1,6 Milliarden Tonnen.

Tagebau Garzweiler
RWE Power, ehemals Rheinbraun AG

https://www.wernerherzog.com/text-by-werner-herzog.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Schaufelradbagger
https://de.wikipedia.org/wiki/Tagebau_Garzweiler
https://www.bund-nrw.de/themen/braunkohle/hintergruende-und-publikationen/verheizte-heimat/verschwindende-doerfer/
https://www.rwe.com/der-konzern/laender-und-standorte/tagebau-garzweiler/


„‚Ästhetisierung des Grauens’ (…) ‚Ihr Kretins’, sagte ich, ‚das hat Dante in seinem Inferno auch schon gemacht, und Goya, und Hieronymus Bosch auch.’“

Porki #56 vom ersten Licht der Dämmerung

Ich liebe die Halde Hoheward zu unmöglichen Tageszeiten, zu denen man den Berg ganz für sich allein hat. Hier findet man eine beeindruckende, kalte Einsamkeit.

Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern,
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Jedes Mal, wenn ich diese Halde zu ungewöhnlichen Tages- und Jahreszeiten und bei seltsamen Wetterlagen bestieg, herrschte eine besondere Stimmmung. Nur das eine Mal, an einem heißen Sommertag, als alles voll von Leuten war, hat mich dieser Ort gelangweilt.

Keine Frage
von Menschenlippen
fordert Antwort.
Keine Rede
noch Gegenrede
macht dich gemein.
Nur mit Himmel und Erde
hältst du
einsame Zwiesprach.
Und am liebsten
befreist du
dein stilles Glück,
dein stilles Weh
in wortlosen Liedern.

Etwa 100 Meter muss man die Stufen nach oben erklimmen. Oben angekommen war es nicht nur einmal, als sei ich auf einem anderen Planeten gelandet. Ganz anders sieht die Welt von hier oben aus. Viel höher ist man, als man von unten erwartet hatte und ganz allein auf einem wunderschönen Stern: Eine Welt zu Füßen, nur für einen selbst.

Es ist eine schöne Einsamkeit, die einen dort oben erwartet. Sie ist nicht traurig, vielleicht mal melancholisch.

Der Dampf der Kühltürme verfliegt im blauen Himmel. Absurde industrielle Riesen im deindustrialisierten Ruhrgbiet; mystische Zeugen einer für mich fast prähistorischen Vorzeit.

Dann überschreitet der ferne Feuerball den Horizont und die ganze Welt wird in goldenes Licht getränkt. Die Sonnenstrahlen wärmen, wo man gerade noch im kalten Wind gefroren hat.

Ein strenger, geometrischer Kreis erhebt sich, der Kirchtürme und Sendemasten umpusten könnte, so scheint es.
Ein Anblick so intensiv, so unwirklich schön, das man selbst fast umgepustet wird.

Und dann erwacht die Welt zum Leben. Bäume, Häuser, Autos, Pflanzen, alles wird wieder wirklich: Aufwachen aus einem ätherischen Traum in eine freundliche Welt.

Plötzlich gibt es wieder andere Menschen.

Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Und letztenendes: Der Weg zurück vom fremden Stern; ins echte Leben mit all seinen Unwegbarkeiten und Annehmlichkeiten.

Die Gedichtsstrophen sind aus „Am Meer“ von Christian Morgenstern (1871-1914)

Porki lernt Sprechen – oder – die Berufung? [Porki #55]

Dieser Blog darf jetzt sein.

Seit dem 9.6.2018 existiert Porkisbilderblog hauptsächlich für mich und lange nur für einen kleinen, ausgewählten Personenkreis.

Bis zum 11.10.2021 hab ich krampfhaft versucht ein Augenzwinkern einzubauen. Das ganze Konzept, „ein Schwein geht auf Reisen“ war ganz sicher eine unterbewusste Existenzberechtigung nach der Logik: Was witzig ist, (oder es zumindest sein soll,) das hat eine Daseinsberechtigung. Ein Kartenhaus das unmittelbar nach dem Richtfest zusammengefallen ist. Das letzte Bild mit Porki vor der Linse ist im Oktober 2018 in Frankfurt entstanden.

Die ganze Wahrheit:

Ich mag Architektur, ich mag Fotografie, ich mag Kunst, die ich oft auch nicht ganz verstehe. Ich mache mir gerne Gedanken darüber, „was der Künstler damit meint“. Ich lese gerne Gedichte von Bertolt Brecht und Prosa von Max Frisch und Kurzgeschichten über die Altwasser der Donau. Ich mag Geschichte, besonders die vielen Grautöne, besonders die Misserfolge und ihre Lektionen. Ich mag es Musik zu machen, auf Saxophon, Klavier, Gitarre, Bratsche und Blockflöte, auch wenn ich nichts davon richtig gelernt hab. Ich denke viel nach über Gut und Böse, über Gott und die Welt und darüber, wer ich eigentlich bin. Ich habe es auch bis heute nicht geschafft, darüber hinwegzukommen, viel darüber nachzudenken, was man von mir hält. Auch wenn „man“ dabei ein durch und durch abstraktes Konzept, ein imaginäres Konstrukt ist. „Man“ existiert vornehmlich nur in meinem Kopf. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, bei denen es mir wichtig ist, mich so akzeptieren (das reicht erstmal), teilweise auch respektieren, wie ich bin, beziehungsweise, dass Leute, die das nicht tun, Leute sind, bei denen mir eigentlich egal ist, was sie von mir halten.

„Man“, (im Prinzip also vor allem ich selbst,) hätte mich ohne diese Porki-Witz-Rechtfertigung als Hipster verschrien, oder mir unterstellt, dass ich all das gar nicht so meine, sondern mich nur inszenieren will, als intellektuell, oder gebildet, dass alles eine Fassade sei.

Seit dem 11.10.2021 trage ich dieses Laster nicht mehr mit mir herum. Seit dem 11.10.2021 bin ich Student im Fach Architektur. Jetzt ist es nicht mehr Inszenierung, weil ich Architektur studiere. Verliert sich der Architekt im Künstlerischen ist es nicht pretentious oder hipstermäßig, sondern eine Tugend, im schlimmsten Fall ist man künstlerisch-intellektuelle Elite im Elfenbeinturm. Die Elbphilharmonie war mit explodierenden Kosten und nicht enden wollenden Verzögerungen Gespött der Nation, bis sie es nicht mehr war und zum spektakulären Monument wurde. Der Name „Herzog & de Meuron“ ist dabei kaum negativ im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben.

Die Wurstfabriken, die große Architekturbüros heute sind, gibt es in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit nicht. Es gibt es nur den selbstständigen Architekten, der von der ersten Bleistiftskizze bis zur Schlüsselübergabe alles übernimmt. Technisch-Rationales und Künstlerisch-Intellektuelles vereint in Universalgelehrten, die alles können, tun und machen. „Man“ respektiert Architekten, demnach auch Architekturstudenten. Dieser Blog und der überwiegende Großteil meiner Interessen und Hobbys sind auf einen Schlag Tugend geworden.

Ich habe auch das Gefühl, endlich eine Antwort darauf zu haben, wer ich bin, oder zumindest, wer ich einmal sein könnte.

Den Großteil meines Lebens hab ich keine Vorstellung davon gehabt, was ich einmal werden möchte. Der dominierende Gedanke war lange: „reich müsste man sein“, ein plötzlicher Geldsegen, ohne Widerstand, ohne Arbeit, ohne Ziel, außer blinden Hedonismus; Die Deus Ex Machina, die einen aus dem schweren Prozess der Selbstfindung befreit. Jetzt fühlt es sich an, als wären bewusstes Denken und Intuition sich endlich Mal einig. Ich liebe die Architektur und das worauf es mir dabei ankommt, der kreative Schaffensprozess, das wofür Architekten ihr hohes soziales Prestige genießen, gelingt mir überdurchschnittlich gut. Die Mutter aller Künste scheint mir wohlgesonnen.

Meine ursprüngliche Idee Medienwissenschaften zu studieren war genau so hinfällig, wie die Sache mit dem reich werden. Das Bild, was mir vor Augen schwebte war ein Studium, was nicht zu anspruchsvoll ist, in einem Bereich, für den ich mich interessiere, um später einen Beruf zu finden, der nicht zu anstrengend ist und in dem man mich in Ruhe lässt. Ein großer Haken: Alles was mit Werbung, PR und Öffentlichkeitsarbeit zu tun hat, widerstrebt mir im Grunde genommen zutiefst. In meinen Augen ist ein anderes Wort dafür „Massenmanipulation“. Der in meinen Augen nach wie vor irrsinnige Numerus Clausus, den die RUB für diesen Studiengang vorsieht, hat mich dazu gezwungen nach anderen Unis und ähnlich geringen Übeln zu suchen. In Marburg wäre mir das gewünschte Studium möglich gewesen, doch Marburg ist Marburg. Wäre es Frankfurt gewesen, in der Stadt des engsten Freundes, oder Berlin, was auf mich seit frühester Kindheit eine fast magische Anziehung ausübt.

Die Aussicht Medien, nicht vor der eigenen Haustür, sondern in der nordhessischen Provinz zu studieren, ohne den gewohnten Job und ohne Auto und mit einer vollständig von den Eltern finanzierten Wohnung, umgeben von Verbindungen und Burschenschaften, von Nazis mit Einstecktüchern, die gleichzeitig noch 48er sein wollen und sich freiwillig das Gesicht entstellen, lässt mich doch lieber etwas über den Tellerrand schauen. Geschichte und Politik, aber auch Geografie, Kunstgeschichte, alle möglichen schwächeren und stärkeren Interessen werden in Betracht gezogen. Für alles wird sich an der RUB beworben, doch die Suche führt auch auf die Website der TU-Dortmund.

„Architektur und Städtebau“? So viel ich mich schon mit Architektur in meinem Leben beschäftigt hab, schien mir das doch immer viel zu schwer. Da muss man ja gut in Mathe sein und auch noch Zeichnen können! Zuletzt, als ich die Biografie von Helmut Hentrich gelesen hab, ist mir diese Vorstellung noch durch den Kopf gegangen. Auch mein Lieblingsautor Max Frisch war Architekt. In meiner Kindheit das Spiel mit Lego, Playmo, das hölzerne Fachwerkhausmodell (2006) für die Hausbauepoche in der Schule und das große Referat (die „Vierteljahresarbeit“) über den Florentiner Dom (2009), Minecraft-Gedaddel seit 2010, die Anziehungskraft, die die Gebäude der RUB seit jeher auf mich ausüben und eingie Bücher, die ich über die Jahre verschlungen hab (z. B. RAW CONCRETE über britischen Brutalismus oder Energy and Architecture, beide von Barnabas Calder); rückblickend wirkt es heute alles wie vorbestimmt.

Doch mir scheint es viel zu schwer. Außerdem sagt das Internet, die Bezahlung ist schlecht, die Arbeitszeiten auch. Auf letzteres kriegt man laut kurzer Internetrecherche an der TU auch schon einem Vorgeschmack. Außerdem ist neben einem NC auch ein Eignungstest gefordert, dessen Abgabe außerdem bereits in zwei Wochen fällig ist!

Beinahe ist das Thema abgehakt, doch aus Neugierde öffne ich doch den Eignungstest: „Eine Umfrage von Adolf Loos – das schönste neue Gebäude, das schönste sterbende Gebäude, der schönste Innenraum, der schönste Palast und der schönste Spaziergang“. Jeweils eine DIN-A4-Seite geschrieben mit eigener Schwarz-Weiß-Fotografie.

Hier ist der Tipping-Point erreicht.

Diese Aufgabe fühlt sich nicht unmöglich an, aber anspruchsvoll, intellektuell anspruchsvoll, diese Aufgabe ist nicht voller Gleichungen und Algebra. Diese Aufgabe fühlt sich an, wie extra für mich gestellt. Das ist exakt die Art von Textproduktion, die mir in den letzten Jahren so viel Spaß gemacht hat und dann auch noch über so ein Lieblingsthema!

Das Bewusstsein lehnt die ganze Idee noch kategorisch ab, das Unterbewusstsein, die Intuition schreit jedoch aus vollem Halse „TU ES!“. Erst auf Muttis Ermutigung hin gehe ich den Eignungstest an. Während im Ahrtal die Welt untergeht, bin ich mit Kamera und blindem Vertrauen, dass das Spritzwasserschutz-Rating die teure Elektronik vor der Feuchtigkeit bewahrt, in meinem verregneten Bochum unterwegs.

Jetzt bin ich motiviert und strecke die Fühler aus. Berlin reizt wieder, wie Hentrich vor 100 Jahren, doch dort sind die Aufnahmebedingungen weitaus härter und zeitlich längst nicht mehr zu schaffen. Auch die Hochschule Bochum, in direkter Nachbarschaft zur RUB, bietet das Fach an, doch auch hier sind nicht mehr zu schaffende Leistungen für die Aufnahme zu erbringen.

Dortmund also!

Bewerbungsschreiben in seiner Langform, bevor ich für die Abgabe einiges kürzen musste

Postscriptum:

Diesen Beitrag habe ich drei Wochen nach Beginn meines Studiums begonnen und erst jetzt fertiggestellt, was als Indiz dafür gelten kann, wie anspruchsvoll dieses Studium ist. Es fühlt sich nach wie vor so an, dass ich mit Architektur einen Lebensentwurf gefunden hab, der mich erfüllt. Das Studium ist knüppelschwer und ich hoffe, dass ich die Klausuren in den naturwissenschaftlichen Fächern genauso überleben werde, wie die Entwurfsfächer der vergangenen drei Semester.

Porki #54 und zwei Dekaden zur Fotografie

Schon ein bisschen albern, mit der Sepiatönung? Die „Vintage“-Kamera hat ja offensichtlich nicht das Foto gemacht, sondern die DSLR mit dem gesamten AdobeRGB-Farbraum und Lightroom. Ich konnte es aber wirklich nicht lassen.

Meine eigentliche Zuneigung zur Fotografie entstammt sicherlich nicht unwesentlich einem Mini-Kindheitstrauma. Im Urlaub auf Wangerooge in den frühen 00ern, an der frühesten Grenze meines Erinnerungsvermögens, hatte meine Mutter immer ihre alte Ricoh XR6 dabei, die ich als neugieriges Blag natürlich immer in die Finger kriegen wollte, aber bis auf wenige Ausnahmen nicht bekam. Filmrollen sind ja nun mal deutlich endlicher als SD-Karten. Seitdem wollte ich aber immer eine eigene Kamera haben. Was mich damals begeistert hat, war glaube ich überhaupt nicht die Fähigkeit Momente festzuhalten, sondern das Verschlussklacken, das Anfassen, das Spielen mit dem Spielzeug der Erwachsenen, die verbotene Frucht und ich glaube auch das betörende Gefühl etwas Endliches verbrauchen zu dürfen. Mein junges Hirn hat das aus irgendeinem Grund stark mystifiziert.

2007 durfte ich mir dann eine Nikon Coolpix L10 zum Geburtstag aussuchen, ohne Spiegel, ohne Film, dafür mit unendlichen kostenlosen Fotos. Im Urlaub und auf Ausflügen, auf Sylt und in Berlin hab ich ständig alles fotografiert und mit der Videofunktion haben wir (aus der Sicht von 10-jährigen) meisterhafte Komödien produziert. 2008 musste ich bereits lernen, dass man sich die Welt nicht nur durch den Kamerabildschirm ansehen sollte. Die Sprengung des Volkswohlbund-Hochhauses in Dortmund habe ich nur durch die massive Erschütterung, die Druckwelle und auf dem kleinen Bildschirm meiner Nikon erfahren. Das war es nicht wert, besonders, da ich zu allem Überfluss auch noch zu spät den Auslöser gedrückt hatte und das Gebäude schon halb zusammengesackt war, als die Aufnahme endlich lief. Auf Enttäuschung folgte Reflektion und Überreaktion. Danach habe ich die Kamera viel zu oft in der Ecke stehen lassen, statt einen Kompromiss zu finden zwischen Erleben und Festhalten. Heute bin ich überzeugt, dass viel „Erleben“ erst durch die Erinnerung vervollständigt wird und damit durchs Festhalten in Bild und Bewegtbild gesichert, teilweise überhöht werden kann.

Der Preisverfall bei diesen Kameras setzte sich in der Konkurrenz zu den ersten Smartphones fort. Die Bildschirme wurden größer und die Gehäuse bunter. Auf irgendeiner Klassenfahrt zu der Zeit, in der die SchülerVZ-Profilbilder noch mit der Digitalkamera vor dem Spiegel gemacht wurden, war ich der Uncoole, weil meine silberne Nikon bieder und angestaubt wirkte, im Vergleich zu den marginal besseren, dafür umso bunteren Kameras der letzten Generation vor dem breiten Einzug der Smartphones. 2011 unterbrach das Samsung Galaxy SII auch mein Verhältnis zu dedizierten Fotoapparaten.

Doch das Verlangen nach der Haptik einer echten Kamera mit einem deutlich merkbaren Spiegelschlag war nach wie vor nicht befriedigt. Die Entwicklung hin zum Smartphone brachte eher das Gegenteil. Nicht mal ein Hardwareknopf ist nötig um den Moment festzuhalten. Schaltet man den Ton aus, entsteht das Bild sogar geräuschlos. Dieses Geräusch, das ansonsten aus dem kleinen Lautsprecher dröhnt, ist nur noch eine Hommage an das Altbekannte. Ich muss zugeben, auch mal auf dem besserwisserischen Bandwagon aufgesprungen gewesen zu sein, dass Fotokameras ihren Nutzen überlebt hätten. Australien 2015 und 2016 Kiew und die Sperrzone, haben mich nachhaltig eines Besseren belehrt. So viele Bilder die in Australien nicht entstanden sind um den Akku im oft stromlosen Outback zu schonen, so viele verwackelte Fotos vom Lagerfeuer, von unglaublichen Sonnenauf und -untergängen. Kiew und Tschernobyl waren noch verzweifelter. Ende Oktober waren die Lichtverhältnisse um 12 Uhr mittags meist zu dunkel für die schlechte Handykamera. Wenn es nicht an Licht gemangelt hat, dann viel zu oft an einem halbwegs passablen Autofokus. So oft habe ich in der dunklen Grundschule mit den Kindergasmasken verzweifelt auf den Bildschirm getippt, so oft habe ich mir die Option zum manuellen Fokussieren gewünscht, die Samsung dem Endnutzer natürlich nicht zutrauen konnte.

Belichtungszeit und ISO einzustellen ist dem Endnutzer nicht zuzutrauen! Das kann nur die Automatik:

Das bunt-warme Leuchten der 90er-Jahre-Instrumentierung, der Kompass suggeriert Abenteuer, die lässige Hand am Lenkrad und rosa-blaue Abenddämmerung im Regenwald auf der anderen Seite der Welt: Atmosphäre dicht wie Blei, leider verwackelt.
Der Road Train bei Hell’s Gate („LAST FUEL FOR 320km“) wird trotz stabiler Auflage zu ein paar Punkten in einem Meer aus reinem Schwarz.
ein ähnliches Bild kurze Zeit später und es ist kaum mehr etwas zu erkennen.
Die Festbrennweite mit Digital-„Zoom“ lässt das gleiche Bild am Tag zu Matschepampe werden.
Tausende Kindergasmasken samt Filter, unbenutzt eingelagert für den Atomkrieg. Der eigentliche Reaktorunfall war für die Kinder unbedenklich, bis er es nicht mehr war und Pripyat für alle Zeiten evakuiert wurde. Alles von Plünderern und Touris herausgekramt und auf dem Boden der Grundschule verteilt; witzig, gruselig, spannend? Auf jeden Fall verwackelt.
Wieder ein cooles Foto, würde es nicht an Dynamikumfang, der Möglichkeit zur RAW-Entwicklung, funktionierendem Autofokus oder der Möglichkeit zum manuellen Fokussieren, Erfahrung in Sachen Komposition, perspektivischer Kompression usw. mangeln. Außerdem: Beweisstück #2367, dass Rauchen nach wie vor oft einfach nur cool aussieht.

Die durch den Minijob gefundene Kaufkraft führte mich zunächst zu einer Drohne, die mir nur 2 Monate später der Bundesverkehrsminister madig machen musste (und wenig später die EU) und dann verbrauchte das Lieberhaberauto all mein Geld, bis ich 2018 wieder flüssig genug war, um mir die inzwischen dringend ersehnte DSLR zu kaufen, ohne dass ich jemals eine in der Hand gehabt hätte, oder wusste, wie „richtig Fotos machen“ im Detail überhaupt funktioniert. An diesem Punkt war das Verlangen von Wangerooge nach dem Spiegelschlag und einer Kamera die auch aussieht wie eine Kamera zu sicherlich 90% erfüllt. Die Digital-Single-Lens-Reflex-Kamera liefert das ersehnte Schnacken beim Druck auf Auslöser.

Das neue alte Hobby hat sofort Anklang bei mir gefunden, hauptsächlich, glaube ich, weil es eine Rechtfertigung für mich selber war, einfach irgendwo durch die Pampa latschen zu können. So ganz nebenbei ist es auch das, was mich überhaupt erst so richtig zur Architektur gebracht hat.

2019 hab ich die Kameratasche dann natürlich mit in den Schwedenurlaub genommen, während ein gewisser großgewachsener Freund eine Auswahl seiner Analogkameras dabei hatte. Mit dem Blitz der Point-And-Shoot den Dritten unter uns aufzuschrecken, (der auch unter dem Namen einer Frucht bekannt ist,) wurde schnell zum Running-Gag. Eine umfassende Dokumentation unserer Urlaube wurde mit unverschämt guten Fotos geschaffen. Viele Gesprächen zu „Heute wollte ich eigentlich früher Schlafen gehen“-Uhrzeiten über skurrile sowjetische Objektive, Vor- und Nachteile der Analogbilddigitalisierung per Flachbettscanner, oder mit welchen Kameras und Accessoires man per Serienaufnahmen am schnellsten die 36er-Filmrolle verbraten kann, haben mich dann endlich dazu gebracht meine Eltern lange genug zu nerven, mir die von den Großeltern geerbte und seitdem im Keller Feuchtigkeit, Pilzbefall und Staub ausgesetzte Olympus auszugraben. Meine Trägheit bei der Beschaffung einer frischen Knopfzelle verzögerten die Inbetriebnahme weiter, nicht aber das Auffinden von Film, wie man aufgrund der aktuellen Knappheit vielleicht erwarten würde. Der Rossmann im Uni-Center Bochum-Querenburg stellt sich nämlich als Anomalie raus. Zum normalen Preis lacht mich der Kodak Gold im Regal an, als gäbe es die Lieferengpässe nicht und das in direkter Nachbarschaft zu einer Uni, an der man Medien, Kunst usw. studieren kann!

Den Film hab ich mir allerdings in der ersten Woche des Studiums besorgt, also in der Woche, in der die konsequente Überlastung begonnen hat und die Work-/Life-Balance katastrophal kollabiert ist. Den Film zu verbrauchen und entwickeln zu lassen hat mehr als ein halbes Jahr gedauert und viele Fotos sind mangels Freizeit und dadurch mangels interessanter Motive kaum erwähnenswert.

Hätten wir auf die Warnung meines Bruders gehört, der als einziger den Krach in der Ferne korrekt als Auspuffschläge einer Dampflok zuordnen konnte, wäre unter diesen Aufnahmen das Bild einer BR78 unter Volldampf mitsamt sehr schönen Umbauwagen, was auch der eigentliche Grund war, warum wir an einem Sonntagmorgen im Oktober zu einem Feld in Wattenscheid gegurkt sind.

Mangels Telezoom sind die schönen Zugvögelformationen in der linken oberen Bildecke nur zu erahnen.

Unsicherheit und Zimperlichkeit sorgten dafür, dass die Olympus bis auf diesen Moment in der Tasche geblieben ist, als im Januar schöne Motive besucht wurden. In Porki #50 und #51 ist dafür die fleißige Arbeit der DSLRs zu bestaunen.

Auf diesen letzten Bildern der Rolle ist es schon wieder Frühling. Ich finde der melancholische Herbst mit Nebelschwaden und rot-braunem Laub profitiert auf diesen Bildern am stärksten vom Charme des Analogfilms

Erstaunlich, wie ein kindlicher Wunsch sich 2 Jahrzehnten technischen Fortschritts widersetzt. 1997 – in meinem Geburtsjahr – wurden die meisten Kleinbildkameras jemals verkauft, gefolgt von einem heftigen Absturz. Die Spitze für Digitalkameras war 2010 erreicht. Heute hat jeder eine Kamera in der Hosentasche, die leistungsfähiger ist, als die Point-And-Shoots der 00er-Jahre. Der Markt für dedizierte Kameras hat sich spezialisiert, die Nachfrage sinkt weiter. Und doch ist der technische Fortschritt weiter ungebremst: Meine 77D gehört zu den letzten DSLR-Modellen Canons. Die Revolution der Spiegellosen hat sich vollzogen. Ich glaube auch, dass der schwindende Absatz in der gegenwärtigen Digitalfotografie irgendwann ein Plateau erreichen wird. Die kleinen Sensoren und Festbrennweiten, die in Smartphones verbaut sind, werden rein physikalisch begründet immer einen Nachteil gegenüber 35mm Vollformatsensoren haben. Viel wichtiger ist in meinen Augen aber, dass es eine ganz andere Erfahrung ist, mit der großen Kamera Bilder zu machen, mit einem spezialisierten Werkzeug, das man eingepackt und den ganzen Tag durch die Stadt geschleppt hat; Selbst die volle Verantwortung für das Bild tragen: Ein gutes Foto, weil man die richtige Einstellung gewählt hat, die richtige Ausrüstung gewählt hat, nicht, weil eine besonders schlaue und kaum zu begreifende Software das Bild für einen aufgehübscht hat. Fast allein trägt man die Schuld, wenn das Foto gelingt und auch wenn es nicht gelingt. Die aktive Auseinandersetzung mit dem Handwerkszeug zur Fotografie, macht das Bild zum kleinen Werkstück, erhebt die Fotografie wieder zu etwas Gehaltvollem, zu etwas, was eine kleine Anstrengung erfordert, vielleicht zu einem Handwerk, manchmal auch zu einer Kunstform. Verglichen mit der Smartphonekamera ist es mühevoll den Regler auf „M“ zu stellen, noch Welten mühevoller Film zu kaufen, einzulegen, entwickeln zu lassen, oder gar selbst zu entwickeln. ISO, Blende, Verschlusszeit, Weißabgleich, Brennweite, Tiefenschärfe, Bokeh, Naheinstellgrenze, Objektivbajonett, IBIS: ein ganzes Vokabular ist zu erlernen, Intuition für den richtigen Moment, für die richtige Bildkomposition, einen verloren geglaubten, neugierigen Blick für den Raum, durch den wir uns bewegen, für Häuser, Tiere, Pflanzen, Menschen wiederzufinden. Es heißt unsere Generation suche nach Erlebnissen, hängt weniger am Materiellen, will die Welt sehen, Abenteuer erleben, verstehen, fühlen. In einer zunehmend chaotischeren und undurchdringlich komplexen Welt, wollen wir Kontrolle haben, einen kleinen, geschlossenen Prozess verstehen und steuern können, fühlen können. Schuld an der kleinen Renaissance der Analogfotografie ist in meinen Augen auch genau das. Kleinbildkameras, analog zu Schallplatten, Walkmans, Schreibmaschinen und VW-Bullis, werden plötzlich geliebt von einer Generation, die keine Erinnerung an sie hat: Gegenstände die einen endlichen Funktionsumfang haben, die in ihrer Gänze zu begreifen sind, die nicht übersteigen, was man sich selbst noch vorstellen kann, die simpel genug sind, dass man sie noch fühlen kann. Es scheint doch, manch einer sehnt sich nach einer simpleren Zeit.

Manch einer hat vielleicht die Mühe vermisst;

Manch einer hat bloß das Spiegelklackern vermisst;

Und einer wollte nur auf Wangerooge mit Mamas Kamera spielen.

Porki #53 und Schnee von gestern und heute

Am 1. April leistet sich das Wetter höchstpersönlich einen Aprilscherz, „Der April macht was er will“ wäre vermutlich auch eine korrekte Einleitung, denn richtiger Schneefall ist im Frühling in diesen Breiten ja doch eher die Ausnahme (geworden?), besonders wenn man bedenkt, dass es diesen Winter praktisch gar kein richtiges Schneewetter gab. Mir persönlich sind Blütenblätter in Kombination mit Schnee bis letztes Jahr auf jeden Fall praktisch unbekannt gewesen. 

Schneefall am 5. April 2021 im Garten mit Kirschblüte

Letztes Jahr ist der Schnee allerdings nicht liegen geblieben. Prüfungsstress hätte mir aber auch sowieso das Gassi gehen mit der Fotokamera versagt. Diesmal sieht es anders aus. Der Schnee bleibt liegen, das Semester startet erst am 4. und die Zeitumstellung sorgt dafür, dass es gegen 18 Uhr noch taghell ist. Für Leute mit gänzlich degeneriertem Schlafrhythmus ist das doch sehr hilfreich. Die unübliche Situation treibt mich also vor die Haustür mit dem Ziel „irgendwie Grün mit Schnee drauf“ zu fotografieren.

Die Erfüllung lässt nicht lange auf sich warten. Im Garten der Nachbarn wachsen fröhliche Osterglocken, die sich unter der ungewohnten Schneelast etwas krümmen müssen.

Der weitere Weg bedarf keiner Überlegung. Es geht die Straße runter und in den Wald, der ohne Grün bei frischem Schnee schon immer aussieht wie aus dem Bilderbuch. Obwohl es erst Anfang April ist, finden sich zu meiner Überraschung noch in der Straße viele sommergrüne Sträucher und Bäumchen, die schon ihre ersten zarten Blätter ins Licht strecken

Obwohl die großen Buchen und Eichen noch kahl sind, erkennt man an Büschen viele grüne Blätter unter der sanften Puderzuckerschicht. Man merkt, wie der Frühling bereitsteht herauszuplatzen um alles wieder zu einem satten, undurchsichtigen und schattigen Geflecht voll von Gerüchen, Vogelrufen und Bachgeplätscher zu verwandeln. Doch noch steht der Wald sanft und stumm: der wenige Schnee schluckt den Schall.

Ein frecher Feldahornsprössling will sich unter den alteingesessenen Buchen und Eichen behaupten.
Die Konkurrenz ist übermächtig und wird in drei bis vier Wochen direktes Sonnenlicht vom Waldboden fast vollständig aussperren.

Es zieht mich weiter durch den Wald.

Jetzt wird es absurd. Im Vordergrund das blattlose Geäst und Schnee, während am Horizont ein riesiges reifes Weizenfeld zu sehen ist:

April, April! Ganz so verdreht ist die Welt doch nicht. Am Horizont erstreckt sich das neue Paketzentrum. Google sagt Weizen ist i. d. R. im Juli erntereif. Damit ist jetzt die ganze kalte frühfrühlingshafte Stimmung ruiniert!

Der Schnee wollte schmelzen, doch durfte noch nicht. Das Tauwasser ist langsam wieder festgefroren, sodass sich ein Tropfen ganz aus klarem Eis gebildet hat.

Am anderen Waldrand angekommen, führt mich mein Weg auf eine schmale Straße zwischen zwei kleinen Feldern. Auf der linken Seite stehen wunderbar aus der Zeit gefallene alte Leitungen.

Das Gras, das durch den Schnee sticht ist schon saftig und grün, dahinter ein Feld, auf dem es auch schon fleißig grünt und Häuschen die genauso gut in Sibirien stehen könnten.

Und zur Rechten freuen sich junge Obstbäume schon auf Licht und Wärme:

Nur wenige Meter weiter ist zwischen den Zweigen eine Ruine zu erkennen.

Verlassenes Haus aus roten Ziegeln
Bauzeit: vrmtl. um 1900
Verlassen: vrmtl. 1990er
Architekt: unbekannt

Ohne Dach gibt es nichts mehr, was den Schnee am eindringen hindert. Dieses schöne Ziegelhaus hat den Wandel der Zeit nicht gut überstanden. Versteckt zwischen Wald und einem kleinen Hof gelegen, überwuchert von Sträuchern ragen die zwei Giebelwände noch deutlich empor. Höher noch hebt sich die Antenne in den Äther, als gäbe es hier noch jemanden der etwas empfängt. Doch der Dachstuhl ist eingestürzt, auch der Dachboden fehlt. Die Sträucher wuchern bis zur Traufe und den Giebel hoch, hinauf bis über den Schornstein. Die im Kreuzverband gemauerten Ziegel mit schmucken Gesimsbändern und gemauerten Flachstürzen sind simpel aber schön; Zeugnis heute selten gewordener Handwerkskunst.

Errichtet wurde das Haus ganz in der Nähe vom ehemaligen Gelände der Zeche Dannenbaum in Bochum-Laer. Eine Verbindung zur Bergbauvergangenheit liegt nicht nur räumlich nahe. Die Architektur ist typisch für die „Zechenhäuser“ der Jahrhundertwende. 1958 schloss Dannenbaum die Pforten. Die Kohlekrise war in vollem Gange, der Niedergang des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet nicht aufzuhalten. Der Strukturwandel vollzog sich unausweichlich. Bochum bemühte sich neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Adam Opel AG konnte man für den Standort Bochum gewinnen, nicht ohne erhebliches Eigenrisiko für die Stadt Bochum. Man erklärte sich bereit für Verluste infolge eventueller Bergschäden zu haften. Die Ersatzzahlungen – wäre dieser Fall eingetreten – wären enorm gewesen. Das alte Zechenhaus überlebte Dannenbaum und die Kohlekrise. Die westliche Giebelwand wurde vermutlich in den 70er- oder 80er-Jahren mit einer wunderbar-hässlichen gelben Verkleidung versehen.

Doch irgendwann danach muss das Haus verlassen worden sein. Erzählungen meines Bruders nach, war das Haus in der 2000ern schon eine Ruine. Die Google-Streetview-Aufnahmen von 2008 zeigen das Haus noch mit intaktem Dachstuhl, doch Zeichen des Verfalls sind schon offensichtlich. Auf diesen Bildern thront im Hintergrund noch der Abluftkamin der Opel-Lackiererei.

Wie das Haus vermutlich in der 90ern verlassen wurde, so setzte sich auch bei Opel der Wandel der Zeit fort. Die Automatisierung, besonders in Form von Schweißrobotern, reduzierte die Zahl der Opelangestellten von 20.000 zur Spitzenzeit auf ca. 10.800 Menschen im Jahr 2003. Bis 2014 überlebte Opel das Zechenhaus, bis sich die nächste Stufe des Strukturwandels auch hier abspielte.

2014 schließt Opel in Bochum seine Pforten, bis auf ein Ersatzteillager in Langendreer. Der Abluftkamin, der auf der Streetview-Aufnahme zu sehen war ist hier schon verschwunden und die ehemalige Lackiererei aus den 1980ern nur noch ein abstraktes Stahlskelett.

Während Witterung, Vandalismus und Vergessen schon seit Jahren an dem Haus nagten, verschwand der Opel-Kamin aus dem Blick auf das Haus. Wieder bemüht sich die Stadt die Folgen des Wandels abzufangen. „Mark 51’7“ nennt sich das Gelände von Dannenbaum und Opel jetzt, in dem verständlichen Bestreben die Assoziation mit dem Niedergang der Industrie zu meiden.

Das Haus, als Zechenhaus ein Produkt des primären Wirtschaftssektors nebenan, erlebte den Wandel von der Rohstoffförderung zu deren Verarbeitung und als Ruine schließlich zur Teritärisierung, zur Forschungs- und Dienstleistungsgesellschaft. Doch Arbeitsplätze, die so simpel und ehrlich sind wie das Ziegelhaus, bieten die neuen Einrichtungen wenig. Der Automatisierungsgrad im Paketzentrum beispielsweise ist hoch. High-Tech und Forschung suchen nach Akademikern, nicht nach Arbeitern. Schlecht für die Malocher von Nokia und Opel. Was jetzt kommt und schon im Gange ist, muss allen voran die Versöhnung mit der Natur suchen: Nachhaltigkeit, die das Haus vermutlich hätte retten können; zu spät, hoffentlich nicht für uns. Es scheint wenig ist von Dauer, selbst Backstein und Mörtel – wie der Schnee im Frühjahr schmelzen sie dahin. Veränderung, Neuanfang und Wiedergeburt sind die Konstanten menschlichen Schaffens. Der Lauf der Dinge interessiert sich doch wenig für unseren Hang zu längst Vergangenem. Willy Brandts Forderung von 1961 hat sich erfüllt. Der Himmel über der Ruhr ist wieder blau, wie einst vor der Zeit von Zechen, Kokereien und Stahlwerken. Der Steinkohlebergbau entlang der Ruhr zeigte sich vergänglich. 2018 wurden in Prosper-Haniel die letzten Kohlestücke zu Tage gebracht. Auch der Stahlriese Thyssenkrupp strauchelt mit seinen letzten Standorten. Das rote Zechenhaus ist vergessen, kehrt zur Natur zurück. Auch wir brauchen sie lebendig und intakt. Doch die Vergangenheit unserer Heimat vergessen wir nicht. In unserer Kultur, in unserer Identität, in unseren Herzen lebt die Schwerindustrie weiter. Die alten Anlagen werden oft erhalten und umgenutzt, blühen wieder auf, nicht selten als Veranstaltungsorte, Mittelpunkte des öffentlichen Lebens. Das Erinnern eint die gesamte Region. Das Zechenhaus, die Steinkohle, Stahl und Rauch – Vergängliches – sind letzten Endes doch nicht nur Schall und Rauch gewesen.

Lange bevor
Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak
Gab es in jedem Jahr
Die Zeit der unaufhaltsam und heftig grünenden Bäume
Wir alle erinnern uns
Verlängerter Tage
Helleren Himmels
Änderungen der Luft
Des gewiß kommenden Frühjahrs.
Noch lesen wir in Büchern
Von dieser gefeierten Jahreszeit
Und doch sind schon lange
Nicht mehr gesichtet worden über unseren Städten
Die berühmten Schwärme der Vögel.
Am ehesten noch sitzend in Eisenbahnen
Fällt dem Volk das Frühjahr auf.
Die Ebenen zeigen es
In aller Deutlichkeit.
In großer Höhe freilich
Scheinen Stürme zu gehen:
Sie berühren nur mehr
Unsere Antennen.

Über das Frühjahr von Bertolt Brecht


Postscriptum:

Schon immer war ich großer Fan von Klinker, Ziegeln und Backsteinen. Der genaue Unterschied zwischen den Dreien war für mich jedoch meist unklar. Korrekterweise dachte ich aber schon immer bei „Klinker“ oder „Verklinkerung“ an eine glatte und bei „Ziegel“ oder „Backstein“ an eine eher raue Oberflächenbeschaffenheit. Im Sprachgebrauch an der Uni wurden alle drei Begriffe jedoch des Öfteren durcheinandergewürfelt, ohne eine Richtigstellung durch Lehrende. Kurzfristig gelangte ich zu der Vermutung, die Begriffe seien tatsächlich austauschbar. Eine kurze Internetrecherche offenbart aber: Klinkersteine werden am heißesten gebrannt, bei Temperaturen bis 1200°C. Sie bestehen aus einem Ton mit einem höheren Anteil an Alumosilikaten. Die Poren des Materials verschließen sich, sodass Klinker besonders widerstandsfähig gegen Feuchtigkeit ist. Ziegel werden bei 900-1100°C gebrannt, sind offenporiger und nehmen daher auch Feuchtigkeit besser auf. Backsteine können noch offenporiger sein und werden bei 900°C gebrannt, allerdings wird die Terminologie hier scheinbar je nach Region etwas haariger. Festzuhalten ist: Klinker nehmen wenig Feuchtigkeit auf, eignen sich für Sichtmauerwerk an Außenfassaden, Ziegel nehmen viel Feuchtigkeit auf, müssen verputzt werden um Frostschäden zu vermeiden.

An der alten Hausruine ist mir außerdem aufgefallen, dass mir der Unterschied zwischen Kreuz- und Blockverband im Mauerwerk doch noch nicht so klar war, wie ich dachte. Hier also der Versuch einer Erklärung für mich und alle, die es interessiert (und Bilder mit echten Miniaturziegeln in selbstgemauerten Miniaturwänden!):

Sowohl im Kreuzverband, als auch im Blockverband wechseln sich Binder- und Läuferschichten ab. Sieht man die schmale Seite eines Mauerwerksteins, so bezeichnet man ihn als „Binder“ (oder Kopf), sieht man die breite Seite, bezeichnet man ihn als „Läufer“. Außerdem sind Stoßfugen die vertikalen, Lagerfugen die horizontalen Fugen.

Beim Blockverband liegen jeweils die Stoßfugen der Binder und die Stoßfugen der Läufer auf einer Linie. Versatz entsteht nur durch den Wechsel von Läufern und Bindern. Das Muster wiederholt sich jede zweite Reihe.

Beim Kreuzverband liegen die Stoßfugen der Binder auf einer Linie, die der Läuferschicht sind aber zueinander um eine halbe Steinlänge versetzt. In diesem Beispiel gibt es 5 Läuferschichten. Die Stoßfugen von Läuferschicht 1, 3 und 5 sind auf einer Linie, sowie die Stoßfugen von Läuferschicht 2 und 4. Das Muster wiederholt sich jede 4. Reihe.

Die farbliche Hervorhebung ist natürlich nicht Teil des Mauerwerksverbands, sondern soll nur das Prinzip deutlicher machen. Auch die unterschiedliche Form der Mauerausschnitte soll nicht vom Prinzip ablenken. Ich glaube, mir persönlich gefällt der komplexere Kreuzverband besser. Beide sind aber sehr schick, finde ich.

Dieser Beitrag ist rückdatiert auf das Aufnahmedatum der Fotografien/das Datum der ursprünglichen Konzeptualisierung, eigentliches Veröffentlichungsdatum ist der 31. August 2022.

Porki #52 Alpha und Omega – Von Krieg, Hoffnung, Glauben und Beton

I – Die Randnotiz

Auf der Suche nach spannenden Bauten in Düsseldorf stand die Bunkerkirche zunächst nur als Eventualität auf meiner Liste. Nachdem wir drei Ziele abgearbeitet hatten, lag die Bunkerkirche schlicht und einfach noch auf dem Weg.

Angekommen, ausgestiegen; Der erste Eindruck? Ernüchternd. Der Blick auf das Gebäude wird aus allen Richtungen massiv eingeschränkt durch Schilder, Straßenbahnoberleitungen (im Bild retuschiert), Bauzäune und zu allem Überfluss auch noch einem Baustellenklo! Man muss eine Weile suchen, um eine Perspektive zu finden, aus der man das doch recht große Gebilde in seiner Gesamtheit wahrnehen kann, wie als hätte man ständig Haare im Gesicht. Beim kurzen Überfliegen des Wikipedia-Artikels zuvor hatte ich mir (fälschlicherweise) gemerkt „katholische Gemeinde St. Sakrament“, vor der Doppeltür angekommen wurden wir jedoch von einem Schild „koptisch-orthodoxe Gemeinde St. Maria“ begrüßt. Ich hatte mich fest darauf eingestellt, dass wir eine menschenleere Kirche mit Weihwasserbecken vorfinden (dann hätte ich auch low key damit flexen können, dass ich weiß, wie der Ritus mit dem Weihwasserbecken funktioniert), stattdessen stehen wir plötzlich inmitten einer sehr lebhaften koptischen Gemeinde. Jetzt irgendwelche idiotischen Fotos machen wäre ganz und gar nicht angebracht. Kinder rennen durch die Gegend Eltern machen Fotos von ihnen und wir müssen sehr verloren ausgesehen haben, weil nach kürzester Zeit schon ein orthodoxer Priester vor uns stand und uns fragte, wie er uns helfen könne. In einem kurzen, aber sehr netten Gespräch erklären wir, dass wir architekturinteressiert sind. Die Frage nach der Konfession, auf die ich selbstbewusst mit „katholisch“ reagieren kann, ermutigt den Priester uns eine knappe Zusammenfassung der Geschichte des Gebäudes zu geben, inklusive dem Fakt, dass die katholische Kirche St. Sakrament eben zur koptischen Kirche St. Maria umgewidmet wurde. In diesem Moment muss ich auch realisieren, dass meine anfängliche Enttäuschung doch sehr daneben war und es doch etwas sehr wünschenswertes ist, dass das Gebäude weiterhin als Kirche seinen Zweck erfüllen darf und dass es auch besser ist, wenn sich Menschen wieder daran erfreuen können, (was bei den spielenden Kindern offensichtlich der Fall war,) als, dass eine (vermutlich leider im wahrsten Sinne des Wortes) ausgestorbene katholische Gemeinde krampfhaft daran festhält. Nachdem ich diese Erkenntnis äußern kann und wir uns für das Gespräch bedanken stehen wir wieder auf dem trostlosen Parkplatz. Dafür fällt mir aber jetzt der andersfarbige Beton um die Fensteröffnungen auf.

Die im Ortbeton verewigte, eindeutig zu erkennende Maserung der hölzernen Schalbretter lässt mein brutalistisches Herz erneut höherschlagen. Wunderbar amateurhaft unregelmäßig wirken die Fugen, an denen der flüssige Beton zwischen die Bretter geflossen ist; kalt und ehrlich. Auch die Kiesnester erzählen von der hastigen Bauweise des Objekts. Ohne Putz, ohne Schminke, ohne Retusche offenbart die Fensteröffnung diesen Teil ihrer Entstehungsgeschichte. Die Form der „Löcher“, die eigentlichen Fenster, lösen in mir Unbehagen aus, wirken wie die Öffnungen eines Insektennestes, was das Gesamtbild aber für mich doch eher noch faszinierender macht. Obwohl sich die Fensteröffnungen mit ihrem hellen Beton farblich so eindeutig vom restlichen Gebäude abheben, passt es doch irgendwie. Der Bunker, der als dringlicher Zweckbau errichtet wurde, wurde genau so zweckmäßig zu etwas Neuem. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem ich trotz der widrigen örtlichen Gegebenheiten von dem Betonklotz begeistert bin. Ein paar hoffnungslose Versuche, Blickwinkel ohne unendlich störende Hindernisse zu finden später, fahren wir wieder Richtung Heimat. Doch mein Interesse ist geweckt.

Die Bunkerkirche entpuppt sich während meiner Recherche auch als höchst geschichtsträchtiges Objekt. Sie ist, wie vermutlich wenig andere Kirchen, auf ewig mit ihrem langjährigen Pfarrer Carl Klinkhammer verbunden, ohne den die Bunkerkirche nicht existieren würde. Die gesamte Biografie dieses Klinkhammers ist fesselnd, wirkt fast wie aus Hollywood: Eine Biografie des 20. Jahrhunderts und doch ein Leben geprägt durch einen eisernen Glauben an das Gute, selbst im Angesicht von Tod und Verfolgung durch die Nazis, der erste von den Nazis verhaftete katholische Pfarrer, alleingelassen durch die eigene Kirche und trotzdem 52 Jahre später, bis zu seinem Tod 1997 seinem Glauben, dem Allgemeinwohl und der Kirche verschrieben. Eines Tages wird sich hier hoffentlich ein Link befinden der zu meiner vollständigen Zusammenfassung der Biografie „Carl Klinkhammer – Ruhrkaplan, Sanitätssoldat und Bunkerpastor, 1903 – 1997“ führt, welche aber noch WIP ist, im Folgenden dafür aber schon:

II – Auszug über die Bunkerkirche aus meiner Zusammenfassung der Biografie Carl Klinkhammers:
Ruhrkaplan, Sanitätssoldat und Bunkerpastor

1946 beginnt für den „Ruhrkaplan“ und Sanitätssoldaten Carl Klinkhammer der dritte Lebensabschnitt.

Nach Krieg und Gefangenschaft findet sich der 43-jährige Klinkhammer in Bonn wieder. Nach dem Tod des dortigen Pfarrers Hinsenkamp erbt er als dienstältester Kaplan die Bonner Münsterpfarrei. Doch Klinkhammer sollte kein langweiliges Leben beschert sein. Die Kollektivschuldkampagne der Alliierten unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg musste unausweichlich auf Klinkhammer stoßen, der als Widerstandskämpfer zweifelsfrei schuldlos war und auch vom Widerstand anderer katholischer Pfarrer wusste. Seine Predigten passten nicht ins Narrativ der Besatzungsmacht und nachdem er im Gottesdienst dazu aufrief den Dreikönigstag wie gewöhnlich als Feiertag zu begehen, entgegen den Weisungen der Administration, war der Bogen überspannt. Von der Polizei genötigt – „‚Dann bin ich also verhaftet?‘ – ‚Wie Sie es nehmen wollen!‘“ – musste Klinkhammer beim Stadtkommandanten erscheinen. Der Kommandant, in dem Glauben auf einen Verbrecher zu treffen, war nicht darauf vorbereitet stattdessen einen Widerstandskämpfer zu empfangen und hörte Klinkhammers berichten von seiner Zeit in Haft und von seinen Predigten gegen den Nationalsozialismus höflich zu. Wie die Jahre zuvor prangerte Klinkhammer in seinen Predigten Unrecht an, wo er es sah. Im kalten Winter 1946/47 feuerte ein belgischer Besatzungssoldat ohne Warnung auf einen Familienvater beim Kohleklau. Klinkhammer leistete dem tödlich verwundeten seinen priesterlichen Beistand und sprach mit den hinterbliebenen Halbwaisen. In seiner nächsten Predigt feuerte Klinhammer zurück: „Wer heute noch mit der Waffe auf Menschen zielt und schießt, der ist ein Mörder. Der Krieg ist vorbei, und der Mord ist am letzten Sonntagabend in unserer Pfarrei an der Eisenbahn beim sogenannten ‚Kohlenklau‘ geschehen. Ich protestiere dagegen!“. Kurz darauf wurde Klinkhammer vom Generalvikar vorgeladen. Klinkhammer war durch sein unbeirrtes, konfliktreiches Anprangern von Unrecht jeglicher Art zu lästig geworden. Er wurde „wegbefördert“, zum Pfarrer von Düsseldorf-Heerdt ernannt. Auf seine Frage „Ist da eine Kirche?“ entgegnete ihm der Vikar „Das weiß ich nicht (…).“.

An der Kreuzung der vier alten Landstraßen aus Köln, Mönchengladbach, Krefeld und Düsseldorf, genannt „Handweiser“, nach einem alten Wegweiser, der in Form einer Hand gestaltet war, fand sich Klinkhammer vor einem kruden Hochbunker wieder. Seine Kirche bestand aus zwei Baracken hinter dem Betonklotz, die einmal Unterkunft für den Reichsarbeiterdienst waren. Belgier und Franzosen hatten während der Rheinlandbesetzung in den 1920-Jahren hier schon einmal Baracken errichtet. Nach dem Abzug der Truppen dienten sie dem ersten Pfarrer der neuen Gemeinde als Notkirche für die Arbeiterfamilien der Umgebung. Schließlich konnte die neue Gemeinde auch ein Grundstück erwerben, auf dem eine richtige Kirche errichtet werden sollte. Die Pläne für die Kirche lagen schon vor, als das Grundstück 1940 widerrechtlich für den Bau des Bunkers beschlagnahmt wurde. Dem Versprechen, dass die Gemeinde ein neues Grundstück im Tausch erhält, kam die Stadt nicht nach. 1944 wurde die Notkirchen-Baracke zerstört. Der Bunker, der inzwischen den Großteil der durch den Bombenkrieg obdachlos gewordenen Bevölkerung beherbergte, hielt den Treffern stand. Nach dem Krieg mussten die neuen Baracken wieder als Notkirche herhalten. 1948 lebten immer noch 21 Personen permanent im fensterlosen Luftschutzbunker, da die Wohnungsnot im kriegszerstörten Düsseldorf nach wie vor groß war. In Klinkhammer reifte jetzt die Idee, dass nicht ein anderes Grundstück mit Neubau die Baracken-Notkirche ersetzen sollte, sondern der Bunker, der ohnehin auf dem Grundstück der Gemeinde errichtet worden war. Eine ganze Batterie ungeklärter Fragen stand im Raum. Wohin mit den Bewohnern? Wem gehört der Bunker? Wer ist zuständig? Woher das Geld für den Umbau nehmen?

Die letzten Bewohner des Bunkers, die sich zunächst nicht vertreiben lassen wollten, konnten im September 1949 in einen besser ausgestatten Wohnbunker umziehen. Klinkhammer ließ sich von seinem Studienfreund, jetzt Dombaumeister, Willy Weyres, die Pläne für den Umbau anfertigen. Entsprechend den Kapitulationsbedingungen gehörte der Bunker der Besatzungsbehörde. Klinkhammer erwirkte beim Finanzamt, (welches den Bunker treuhändisch verwaltete,) dass der Bunker, für dessen Grundstück das Finanzamt Miete an die Gemeinde zahlen musste, an die Gemeinde übertragen wird. Nach dem auch die Baugenehmigung eingeholt war, konnte mit dem Umbau begonnen werden. Die Kosten wurden auf 150.000 Reichsmark geschätzt. Die Westdeutsche Allgemeine berichtete:

„Bunker wurde stabilste Kirche der Welt. Arme Düsseldorfer Pfarrei schuf in Gemeinschaftsarbeit ein Gotteshaus. Der ehemalige ‚Ruhrkaplan‘ vertauschte Soutane gegen eine ehemalige Militäruniform, Breecheshose und hohe Schaftstiefel, verteilte nach Feierabend Schaufeln und andere Gerätschaften an die Jugend und die Männer der Gemeinde, lies ein Feldgleis legen und schob die Kipplore selbst an, den ersten Schutt abzufahren. So ging das den Sommer über, im Herbst und im Winter. Eine Sprengfirma wurde als einzige bezahlte Kraft engagiert, um Zwischendecken und Fensteröffnungen herauszusprengen, während alle anderen Arbeiten durch freiwillige Helfer verrichtet wurden. Die Außenmauern, in die die Fenster eingesprengt werden mußten, waren 1,20 m dick aus härtestem Eisenbeton, durch den die Bohrlöcher für die Sprengladungen mit Donarit getrieben wurden. Ununterbrochen ratterten die Kompressoren. Die Bohrlöcher zusammengenommen betrugen eine Länge von 5 km. Tausende Tonnen Schutt wurden aus dem Eisenbetonkoloß herausgeholt. Und am späten Abend – bisweilen auch schon etwas früher, wenn die Zeit es erforderte – zog der ‚Ruhrkaplan‘ wieder seine Soutane an und fuhr über Land. Dreimal in der Woche. Er sprach in Westfalen und am Niederrhein, im Norden und im Süden. In Großstädten und in Dörfern. Über 300 Vorträge (‚Volksnot und Erlöserglauben‘, ‚Recht und Grenzen religiöser Toleranz‘, ‚Der Christ in der Zeitenwende‘, ‚Versöhnte Christenheit‘, ‚Deutschlands Wiedergeburt und Auferstehung Europas‘ usw.) hat er wohl in diesen arbeitsreichen Monaten gehalten. Und jeden Pfennig, den er nicht für die caritative Betreuung der Ärmsten seiner armen Gemeinde gebrauchte, legte er in die Baukasse. Die Hälfte der großen Summe, die für den weiteren Ausbau benötigt wurde, hat Dr. Klinkhammer durch seine Vorträge hereingeholt, ein kleiner Teil kam durch Spenden einiger Gönner auf. An seine Pfarrkinder, die selbst nichts hatten, wandte er sich nur einmal: ‚Die Kirchenbänke, die für eure Bequemlichkeit sind – das Holz hatte ich im Sauerland zusammengepredigt – müßt ihr selbst bezahlen.‘“

Doch ein Schreiner aus Klinkhammers alten Gemeinde in Altenessen fertigte die Kirchenbänke auch noch kostenlos an. Sogar den Bauschutt konnte die Gemeinde noch verkaufen um die Baukosten niedrig zu halten. Doch der Papierberg war noch nicht bewältigt. Obwohl der Umbau schon längst im Gange war musste sich Klinkhammer durch drei weitere Instanzen kämpfen. Nach langem schriftlichen hin und her und vielen Überfahrten mit der kleinen Fähre, da die Rheinbrücken noch nicht wieder aufgebaut waren und alle wichtigen Behörden auf der andere Seite des Flusses lagen, konnte die Gemeinde das „entmilititarisierungspflichtige Kriesgbauwerk“ nun vorläufig für 10 Jahre, zu monatlich 10 D-Mark pachten, unter der Bedingung, dass der Bunker entmilitarisiert wird, was natürlich längst im vollen Gange war.

Der Umbau des Bunkers glückt:

„Ein lichtdurchflutetes, rechteckiges Kirchenschiff, 20 mal 35 Meter im Geviert und 9 Meter hoch […]. Zum freistehenden Altar, der sein Licht von einem vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster erhält, führen sieben Stufen als Symbolisierung der Unendlichkeit hinauf. Diesem gegenüber befindet sich – freischwebend über der Taufkapelle und Eingangsräumen – die Empore, die mit der Orgel den Abschluß bildet. Einfach und schlicht unter Wahrung und Nutzung des vorhandenen Materials, dennoch monumental in seiner Wirkung, Präsentiert sich das von einer freischwebenden Decke überspannte Kirchenschiff, das durch die großen Dickglasfenster von Walter Benner bisweilen an die mystische Dämmerung von Chartres gemahnt, woher der Künstler nach seiner Bezeugung seine Intuition gewonnen habe.“ (Klinkhammer, Die stabilste Kirche der Welt, in: Bürgerverein Heerdt e.V., Heerdt im Wandel der Zeit II, Düsseldorf 1980, S. 76)

Auch zu einem Kruzifix, für die leere Wand über dem Altar, kam die arme Gemeinde. In 1200 Stunden Arbeit fertigte der Schmied Johann Karst, der seine drei Söhne im Krieg verloren hatte, ein überlebensgroßes Jesuskreuz an „Und er brachte es … und wollte nicht einmal einen Dank dafür.“

Am 30, Oktober 1949 konnte die Bunkerkirche eingeweiht werden. Die Rheinische Post schreibt nach der ersten Predigt:

„So sei heute ein Bollwerk des Krieges zu einer Stätte des Segens umgewandelt worden. Der finstere klobige Bunker von einst sei ein rechtes Abbild der Seele des heutigen Menschen. Sie schließe sich hermetisch ab von der Umwelt, vom Nächsten und seinen Nöten und kümmere sich nur um ihn, wenn es gelte, ihn auszubeuten. Diese seelischen Bunker müßten gesprengt werden oder es müßten, wie hier, Fenster gebrochen werden, durch die das Licht hereinfluten könne, das Licht des göttlichen Wortes und der Gnadenmittel der Kirche. Auch aus dem Bunker des überheblichen Nationalstolzes und des Rassenhasses müßten wir hinaus. Ein übervölkischer, ja ein Weltzusammenschluss sei keine Utopie, allerdings nicht auf Grund irgendeiner Theorie aus West und Ost, sondern dann, wenn sich die Völker dem sanften Joch Christi, des Königs der Könige, beugten.“ („Sprengt die Bunker der Seele!“, RP vom 31.10.1949)

Der ursprüngliche Architekt des Luftschutzbunkers entwarf 1952 für die Kirche einen Glockenturm, als Aufsatz für den Flakturm, für den Klinkhammer selbst in Hamburg auf einem „Glockenfriedhof“ fünf Bronzeglocken besorgte, die ursprünglich aus Danzig stammten und die im Krieg für die Rüstungsproduktion eingeschmolzen werden sollten.

Mit Ziegelaufbau wird der Flakturm zum Glockenturm

Nach 5 Jahren versuchte Klinkhammer den Bunker endgültig in den Besitz der inzwischen stark angewachsenen Gemeinde zu überführen. Inzwischen war der Verhandlungspartner die junge Bundesrepublik, für die der Bunker eigentlich wertlos geworden war. Doch die „unentgeltliche Überlassung“ war aus „haushaltsrechtlichen Gründen“ nicht möglich. Das Finanzbauamt schätzte den Wert des Gebäudes auf etwas 100.000 DM, Klinkhammer schlug dem Generalvikariat vor den Kaufpreis auf 80.000 DM runterzuhandeln, doch schon 100.000, die Schätzung des eigenen Amtes, wollte die Behörde nicht genehmigen und unterbreitete stattdessen einen neuen Pachtvertrag. Klinkhammer wollte aber um jeden Preis verhindern, dass der Bunker weiter für eine Remilitarisierung in Betracht gezogen wird. Nach weiterem Schriftverkehr und wohlgesonnener Fürsprache wurde man sich schließlich einig. Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Oberfinanzdirektion Düsseldorf verkaufte am 5. Dezember 1955 endültig die Bunkerkirche für 100.000 DM an die Katholische Kirchengemeinde Hl. Sakrament.

Klinkhammer bleibt sein restliches Leben in der Bunkerkirche in Düsseldorf-Heerdt. Für seine Verdienste wird ihm 1975 von Papst Paul VI. der Titel Monsignore verliehen. Bis 1991 bleibt er engagierter Pfarrer seiner Gemeinde. 1992 wird er mit dem Verdienstkreuz des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.

1997 stirbt Monsignore Carl Klinkhammer mit fast 94 Jahren in Düsseldorf-Heerdt.

Quelle: Wikimedia Commons, Velopilger, CC BY-SA 3.0

III – Krieg, eine neue Heimat, eine neue Kirche

Nicht nur durch die letzten Missbrauchsskandale sinkt in Deutschland das Interesse an der Kirche. Jährlich treten hunderttausende aus der katholischen Kirche aus. Die stark geschrumpfte katholische Gemeinde in Heerdt konnte die Bunkerkirche kaum gerecht nutzen, sodass sie 2015 durch den Kölner Erzbischiof Woelki an die koptische Gemeinde Düsseldorf übergeben wurde. 2018 verabschiedete sich die katholische Gemeinde endgültig von der Kirche St. Sakrament.

Doch damit entgeht die Bunkerkirche dem Schicksal vieler anderer Sakralbauten in Deutschland. Niemand muss sich den Kopf zerbrechen, wie man den kostspieligen Unterhalt eines so großen Baukörpers mit ein paar Kunstaustellungen rechtfertigen kann, niemand muss sich Umbaupläne ausdenken, stattdessen kann sie weiter als Kirche genutzt werden. Im Gegensatz zur katholischen Kirche wächst die koptische Gemeinde in Düsseldorf. Leider wächst sie muss man sagen, denn die Kopten werden mehr, weil sie fliehen müssen. Die Kriege und Krisen des nahen Ostens treffen alle Menschen die dort leben, auch und in manchen Fällen besonders die Christen. 6-10% der Ägypter sind zum Beispiel koptischen Glaubens, was nicht verhindert, dass sie seit 2011 immer wieder Anschlägen und Verfolgung ausgesetzt sind. Auch überall wo der Islamische Staat wütete, mussten und müssen Kopten fliehen um dem Tod zu entgehen.

„In Nordrhein-Westfalen haben 4000 von ihnen Zuflucht gefunden. 300 Menschen gehören zur koptisch-orthodoxen Gemeinde St. Maria in Düsseldorf-Gerresheim, die sehr viele Flüchtlinge in ihrer Mitte aufgenommen hat. An Feiertagen nehmen heute bis zu tausend Gläubige am Gottesdienst teil, während es früher nur rund 100 Familien waren.“

– Website der koptischen Gemeinde
neuer Anbau: „KITA PASTOR KLINKHAMMER“, ob es sich hierbei schon um das geplante Integrationszentrum handelt, ließ sich für mich nicht herausfinden

Ich hoffe, sie finden hier in Deutschland nicht nur Zuflucht, sondern eine neue Heimat, auch eine neue Hoffnung. Ihren Glauben haben sie nicht verloren. Der Bunkerkirche schenken sie ein drittes Leben, eine Weiternutzung im eigentlichen Sinne, als weltlicher und spiritueller Zufluchtsort: Keine museale Konservierung, keine eingefrorene Erinnerung; Erlösung und Wiederauferstehung für den Hochbunker am Handweiser, Ostern für die Bunkerkirche.

Dieser Beitrag wurde rückdatiert auf den Tag der ursprünglichen Konzeptualisierung/Aufnahmedatum, tatsächliches Releasedatum: 19.7.22

Porki #51 und Rank Xerox

Rank-Xerox, so oft kopiert
In jeder Zeitung ihr Gesicht, dein Gesicht, mein Gesicht
In der Stadt, auf dem Amt
Im Bullenbüro, im Chinarestaurant
Auf dem Fahndungsplakat.

Rank Xerox (1979) von Hans-A-Plast

Rank Xerox Hauptverwaltung, heute Lindner Unternehmensgruppe
Architekten: Hentrich, Petschnigg & Partner
Mitarbeiter: M. Zotter, C. Arens, T. M. Fürst
Baujahr: 1968-70

Die zweite Station unserer spontanen Düsseldorf-Exkursion am Neujahrswochenende führt uns auf die westliche Rheinseite nach Düsseldorf-Lörick zur ehemaligen Rank Xerox Hauptverwaltung (ebenfalls von Hentrich, Petschnigg & Partner) und dem Lindner Congress Hotel. Beide Bauten liegen direkt nebeneinander, außerdem gehören heute auch beide zur Lindner Unternehmensgruppe. Interessanterweise wurde das Lindner Congress Hotel von Lindner Architekten bis 1974 gebaut und bekommt aktuell seine „Krone“ ebenfalls wieder von Lindner Architekten aufgesetzt. Der gleiche Name ist kein Zufall, es handelt sich damals wie heute, Architekturbüro wie Hotellerie um das gleiche Unternehmen. Korrektur: Jemand spricht die Unwahrheit, oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Laut „Auf den zweiten Blick – Architektur in der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen“ war das Lindner Congress Hotel ursprünglich Verwaltung und Hotel Rheinstern von Dansard-Hellenkamp-Kalenborn & Partner und wurde 1973 gebaut, mit dem Namen Rheinstern findet man sogar das Lindner Congress Hotel. Doch meiner Meinung nach passt der neuste Umbau überhaupt nicht. Offensichtlich gefällt jemandem der skulpturale Betonbrutalismus nicht. Was dagegen ein riesiger Aluhelm auf dem Dach bringen soll, kann ich persönlich nicht erkennen. Meiner Meinung nach wird das konsequente Erscheinungsbild damit nur verwässert und das gesamte Gebilde dadurch empfindlich gestört.

Angenommen man würde Brutalismus ablehnen, dann glaube ich, dass man doch trotzdem lieber etwas konsequent Durchexerziertes betrachten würde. Diese „Krone“ ist keine Krone, sondern eine NY-Yankees-Mütze, die jemand mit Gewalt auf den Irokesen eines Punkers gedrückt hat. Es könnte auch die Plastikschutzkappe auf den Kontakten eines neuen Kabels sein, bei der man sich wundert, ob sie nur vergessen wurde. Lasst doch den Beton einfach Beton sein. Besonders mit dem Baustellenaufzug wirkt es, als wäre es einfach ein unfertiger Neubau. Wer es vorher nicht schön findet, den wird dieser bescheuerter Aluhut bestimmt nicht umstimmen. Auch deshalb soll es in diesem Beitrag nicht um das Hotel gehen.

Im Gegensatz zum Hotel schafft es das Bürogebäude dahingegen sofort positiv herauszustechen. Obwohl man den Eindruck hat, auf einem schäbigen Hinterhof gelandet zu sein – überall stehen Autos, und der Schilderwald tut so, als sei der Parkplatz mindestens viermal so groß – geht der Bau nicht unter. Steht man in echt davor, wird einem die ungewöhnliche hexagonale Form sofort klar. Die Frontalaufnahmen werden dem Ganzen leider nicht gerecht. (Für eine Wirkung „wie in echt“, müsste man Fotos von weiter weg mit mehr perspektivischer Verdichtung machen, was aber wegen dem Wald an Hindernissen vor Ort leider nicht wirklich eine Option ist.) Was aber gut zu erkennen ist: Das Gebilde wirkt nicht wie ein alleinstehender Solitär, sondern wie ein kleines Grüppchen, während es ja in Wahrheit ein einzelnes Gebäude ist. Die hinteren Flügel halten sich respektvoll zurück, wie zwei Bodyguards, während sich der vordere einem zuwendet, sich mit dem Haupteingang sogar öffnet. Obwohl wir im tiefsten Winter, am Neujahrstag da sind, wirkt das Gebäude außerdem sommerlich auf mich, die dunkel getönten Scheiben wie die einer Sonnenbrille. Der Sichtbeton ist ungewöhnlich Braun, wie nasser Sand am Spülsaum. Lässt man sich auf diesen Vergleich ein, kommen einem noch mehr solcher Assoziationen in den Sinn; die Form wie Sonnenschirme oder ein Pavillon, dazu passend die Schalbretterabdrücke, in denen die Holzmaserung verewigt ist. Eine zusammengezimmerte Strandbar vielleicht? Mit den umlaufenden Fluchtbalkonen könnte das Gebäude auch ein Stapel seltsamer Hüte sein. Das Capitol Records Building wird gerne mit einem Stapel Schallplatten verglichen. In diesen Gedanken verloren könnte auch gleich Axel Foley aus dem Haupteingang gehüpft kommen oder „Cyberdyne Systems“ über der Tür stehen. Dabei sind wir nicht im Los Angeles der 1980er, sondern in Düsseldorf-Lörick. Im Sommer ist das nahegelegene Rheinufer aber bestimmt auch ganz schön.

Sichtbetonbrüstungen der Fluchtbalkone (…oder doch ein Holzsteg am Sandstrand?)

Der Parkplatz mit dem Haupteingang liegt höher als das Erdgeschoss des restlichen Gebäudes. Nach Nordwesten steigt man eine Treppe herab und steht vor einem Nebeneingang. Von hier aus lässt sich auch erkennen, dass die drei hexagonalen Prismen nicht etwa wie Bienenwaben angeordnet sind, sondern so, dass nur die Ecken, nicht aber die Flächen aufeinanderstoßen würden.

Bienenwaben
Rank-Xerox-Haus schematisch
Rank-Xerox-Haus tatsächlich

„Um den zentralen Kern gruppieren sich die Bürogroßräume der Hauptverwaltung Rank Xerox, und in der erhöhten Kernpartie befinden sich die Konferenz- und Speiseräume sowie die Direktion. In der Eingangshalle sind Ausstellungsräume und Besprechungskabinen, tiefer sind Cafeteria und Küche“

werk Ausgabe #59 (1972)

Wie im Bild deutlich zu erkennen ist, gibt es einen Höhenversatz, der laut Wikipedia 1/3 der Geschosshöhe beträgt. „Bemerkenswert“ nennt die gleiche Quelle auch die Grundrisse, welche in der eben zitierten Ausgabe von „werk“ auch abgebildet sind. Ich glaube gerne, dass die Höhenunterschiede, zusammen mit der offenen Raumgestaltung eine spannende Wirkung im Innenraum erzeugen.

Ich finde es schon ein bisschen schade, dass es in zweiter Reihe, in einem Gewerbegebiet und umringt von Parkplätzen versteckt ist. Ich glaube das Rank-Xerox-Haus ist nämlich – im Gegensatz zu seinem verunstalteten Adoptivbruder nebenan – Beton-Brutalismus, der auch heute schon bei einem breiteren Publikum wieder mehr Anklang finden würde, allein schon, weil ihm niemand unterstellen kann ein „Klotz“ zu sein.

Ein Jahr nach dem Abschluss der Bauarbeiten wurde das Gebäude mit einer Plakette des BDA ausgezeichnet, seit 1994 ist es denkmalgeschützt.

Postscriptum:

Ein Deonym ist ein Wort, das sich im allgemeinen Sprachgebrauch von einer Markenbezeichnung zu einem Gattungswort gewandelt hat. Beispiele im Deutschen, die jeder kennt sind: Tempo, für Taschentuch oder Googlen, für im Internet suchen. Im englischsprachigen Raum ist Xerox ein Deonym. Mit „to xerox sth.“ ist gemeint, etwas zu fotokopieren. Fotokopien werden auch allgemein einfach „Xerox“ genannt. Bojack Horseman beschreibt sein Verhalten in einer Episode, die auch diesen Namen trägt, als „xerox of a xerox“. Gemeint ist damit die Kopie einer Kopie, die mit jeder Reproduktion ein kruderes Abbild der Wirklichkeit wiedergibt.

Von deutlich älteren Jahrgängen hab ich schon hin und wieder Xerox deutsch ausgesprochen, als „Kseerocks“ gehört. Die deutsche Zunge macht so etwas ja ganz gerne mal. Amazon – deutsch: Ahmahzohn vs. englisch: Ämmeson kommt einem auch als etwas jüngerer Mensch bekannt vor, wobei es hier meiner Meinung nach noch fataler ist, da die phonetische Ähnlichkeit zu „Amazing“ flöten geht, was bei genauerer Überlegung allerdings vielleicht auch gar nicht so schlecht für uns ist. Mit dem Klang von „Babcock-Borsig“ im Kopf war ich allerdings verunsichert, ob man Rank Xerox englisch-englisch ausspricht, oder ob Rank nicht eventuell deutsch ist. Wer sich also wie ich fragt, wie man „Rank Xerox“ (was seit 1997 mit diesem Namen nicht mehr existiert, sondern nur noch Xerox heißt) richtig ausspricht, den kann ich beruhigen. Rank Xerox in englisch-englisch ist korrekt. Die Rank Xerox war ein Joint Venture der US-amerikanischen „Haloid Company“ und der britischen „Rank Organisation.“

Dieser Beitrag ist rückdatiert auf das Aufnahmedatum der Fotografien/das Datum der ursprünglichen Konzeptualisierung, eigentliches Veröffentlichungsdatum ist der 18. Juli 2022

Porki #50 und das Dreischeibenhaus

„In Stahl und Glas werden die Ausrufezeichen des Wirtschaftswunders an der südlichen Pforte des Ruhrgebiets errichtet.“

– Süddeutsche Zeitung, 1. August 1958

„Dreischeibenhaus“, 1964-2010 „Thyssenhaus“, seit 2010 wieder „Dreischeibenhaus“


Architekten: Helmut Hentrich, Hubert Petschnigg, Fritz Eller, Erich Moser, Robert Walter (heute HPP Architekten, Eller, Moser und Walter trennten sich im Laufe ihrer Karriere jedoch von Hentrich und Petschnigg)


Bauzeit: 1957-1960, 1988 unter Denkmalschutz gestellt, Sanierung 1994, 2015 (durch HPP erfolgt)

Bauherr: Phoenix-Rheinrohr AG Vereinigte Hütten- und Röhrenwerke (ab 1964 Thyssen), hat die Stahlrohre der Tragkonstruktion außerdem selbst hergestellt

„Ich erinnerte mich an einem ruhigen Wochenende in Wallersheim an ein Grundrißsystem, das ich in Berlin während meiner Studienzeit kennengelernt hatte. Es war ein Flursystem, das zweibündig durch Überschneidung auch den Vorteil einer dreibündigen Anlage bot. Dieses System war einmal von den Berliner Architekten Mebes und Emmerich entwickelt worden. Dort handelte es sich um Schulgrundrisse. Die Anwendung auf unser Projekt stieß aber auf unüberwindliche Schwierigkeiten, da das Grundstück das zur Verfügung stand, nicht in der Länge ausreichte. Es fehlten mindestens zehn Meter. Ich glaubte aber, daß bei vergrößertem Grundstück, sowohl in künstlerischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht, eine ungewöhnliche Lösung möglich sei. Wir arbeiteten auch diesen Entwurf aus, mit dem Risiko, mit dieser Konstruktion aus dem Wettbewerb auszuscheiden. Beide Arbeiten wurden eingereicht und kurz vor Weihnachten kam es zur Entscheidung, die allen Beteiligten im Malkasten bekanntgegeben wurde. Ein etwas peinliches Verfahren. Wir erhielten den ersten Preis für den ersten Lösungsvorschlag. Die zweite fand Beachtung, scheiterte aber an der Grundstücksfrage. Petschnigg und ich fanden aber das zweite Projekt viel besser. Im Büro war man unterschiedlicher Meinung. Wir setzen alles daran, eine Korrektur der Grundstücksgrenze zu erreichen. Die städtische Verwaltung schloß eine Änderung des Bebauungsplanes nicht mehr aus. Der verunsicherte Vorstand beschloß, sich amerikanische Verwaltungsbauten anzusehen und eventuell auch Stellungnahmen namhafter amerikanischer Architekten einzuholen. Es kam erneut zu einer Amerikareise. Wir besuchten Skidmore, Owings und Merril, die damals auf dem Gebiet des Verwaltungsbaues führend waren. Mr. Bunshaft, der Leiter der Entwurfsabteilung, nahm sich alle erforderliche Zeit, um sich in beide Planungen zu vertiefen. Nach langer Überlegung und ausführlicher Diskussion erklärte er mit aller Entschiedenheit und ohne Vorbehalt ‚Sie können Ihr Projekt nur nach ihrem zweiten Entwurf bauen. Sie müssen das Grundstück erweitern‘. Diese Aussage war für den Vorstand ausschlaggebend. Die Last der Entscheidung war von ihren Schultern genommen, es kam zur Auftragsvergabe und zur Durchführung. […] Das ursprüngliche ‚Dreischeibenhaus‘, später ‚Thyssenhaus‘ benannt, wurde unser größter Erfolg.“

aus Helmut Hentrich „Bauzeit – Erinnerungen aus dem Leben eines Architekten“

2011 wechselte das Dreischeibenhaus seinen Besitzer. Die MOMENI Gruppe und Black Horse Investments übernahmen das Gebäude von ThyssenKrupp und beauftragten HPP Architekten als Urheber mit der Sanierung des denkmalgeschützten Hochhauses. Wie ich finde, ist HPP sehr sorgsam mit diesem eigenen, wichtigsten Erbe umgegangen.

Die Glasscheiben schließen nicht mit dem Rahmen ab, die ursprüngliche Primärfassade wird zur Blendfassade, der Raffstore scheint innenliegend, ist aber vor der Primärfassade angebracht und wirkt bauphysikalisch auch so. Energetisch ist das Dreischeibenhaus im 21. Jahrhundert angekommen. Der Unterschied fällt nur auf, wenn man genau hinschaut und verändert nicht ästhetische Wirkung und Materialität der denkmalgeschützten Fassade. Trotz dieser Maßnahme geht keine Nutzfläche verloren. Die Dezentralisierung der Haustechnik brachte stattdessen sogar ein Gewinn von 1.200m² Fläche.

Quellen:

Helmut Hentrich: Bauzeit – Erinnerungen aus dem Leben eines Architekten, ISBN: 978-3770010370
hpp.com/projekte/fallstudien/dreischeibenhaus/
de.wikipedia.org/wiki/Dreischeibenhaus